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Presseschau - Detail

Wer glaubt, belebt den Buchstaben

DT vom 24.11.2015, Nr. 140, S. 6 von Regina Einig

Regensburger Symposion über die Konzilskonstitution Dei Verbum beleuchtet den Beitrag Joseph Ratzingers zum Offenbarungsverständnis. 

 

Regensburg (DT) Bibeltexte gehören nicht allein in die Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil wollte das Buch der Bücher allen Menschen neu erschließen. Wie anspruchsvoll diese Aufgabe in einem von wachsender Gottferne gezeichneten Jahrhundert geriet, zeigte sich gleich zu Beginn des Konzils im Ringen um die dogmatische Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung. Im Zentrum des Textes stehen die Bibel und ihre Auslegung. Entscheidende Impulse verdankte die Diskussion dem jungen Bonner Fundamentaltheologen Joseph Ratzinger.

Genau fünfzig Jahre nach der Promulgation des am 18. November 1965 mit überwältigender Mehrheit angenommenen Dokuments beleuchtete ein Symposion des Instituts Papst Benedikt XVI. in Regensburg sowohl die Offenbarungskonstitution als auch die Rolle Joseph Ratzingers bei deren Erarbeitung. Als theologischer Berater des Kölner Erzbischofs Joseph Kardinal Frings hatte er bereits im Herbst 1962 ein neues Offenbarungsschema entworfen, nachdem das von der Theologischen Vorbereitungskommission erarbeitete Schema „De fontibus revelationis“ (Über die Quellen der Offenbarung) bei nicht wenigen Konzilsvätern auf Kritik gestoßen war. Gegenstand der Kontroverse war unter anderem die Formulierung von zwei Quellen der Offenbarung gewesen. Zwar hatte das Konzil von Trient erklärt, dass die Offenbarung in geschriebenen Büchern und in ungeschriebenen Überlieferungen enthalten sei, doch zugleich vom Evangelium als der einen „Quelle aller heilsamen Wahrheit und Sittenlehre“ gesprochen.

 

Die Entscheidung Johannes' XXIII., das Schema der Theologischen Vorbereitungskommission abzusetzen und durch eine gemischte Kommission neu bearbeiten zu lassen, brachte Bewegung in die Debatte. Ratzinger wandte sich dabei gegen die Vorstellung, dass die Frage, ob die Heilige Schrift alle Offenbarungswahrheiten enthalte, für das rechte Verständnis der Tradition von entscheidender Bedeutung sei. Schwerer wogen für ihn seine bei der Lektüre Bonaventuras gewonnenen Einsichten. Peter Hofmann (Agusburg) ordnete Ratzingers Beitrag als „angewandte Bonaventuraforschung“ ein: Jenseits von „Schulbuchterminologie und Schulstreit“ habe Ratzinger das Thema Offenbarung auf „ihren personalen Kern“ reduziert und dabei sowohl auf eine neue Terminologie verzichtet als auch schriftnah formuliert.

 

Offenbarung sei immer größer als das bloß Geschriebene, hielt Ratzinger rückblickend in seinen Lebenserinnerungen fest. Auch wenn sich die göttliche Offenbarung in der Heiligen Schrift niederschlage, „ist sie nicht einfach mit ihr identisch“. Zur Schrift gehöre das verstehende „Subjekt Kirche“. Mit einem katholischen „sola scriptura“-Prinzip war dieses Offenbarungsverständnis nicht vereinbar.

 

Eine zweite Fassung von Ratzingers Entwurf entstand unter Mitarbeit von Karl Rahner und kam in die Hände vieler Konzilsväter. Aus Hofmanns Sicht fehlte es der Neufassung allerdings an der Klarheit der Erstfassung. Der ursprüngliche Entwurf Ratzingers sei dem Text und der Intention der späteren Offenbarungskonstitution näher gekommen als „die überfrachtete Zweitfassung zweier periti, die von recht verschiedenen Positionen ausgingen“.

Der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping wies der Konstitution Dei Verbum in seinem Beitrag eine Schlüsselstellung im Reigen der Konzilstexte zu, weil sich mit ihr lehramtlich ein Paradigmenwechsel im Offenbarungsdenken vollziehe. Die Konstitution betone den geschichtlichen Charakter der Offenbarung, hebe Gottes Geschichtsmächtigkeit hervor und unterstreiche seinen universalen Heilswillen, so Hoping. Die Geschichte werde als eine von Gott eröffnete Heilsgeschichte gelesen, in deren Mitte Gottes Selbstoffenbarung in Christus stehe. Das Zweite Vaticanum habe „der Kirche wieder die volle Person Jesu in Erinnerung gerufen, in dem Offenbarung und Offenbarer eins geworden seien“. An die Stelle einer Offenbarung, die diese vor allem als Erlass göttlicher Dekrete betrachtet, sei eine geschichtlich-sakramentale Sicht getreten, in der Wort und Tat, Botschaft und Zeichen, Person und Leben Jesu Christi in der Einheit des Heilsmysteriums zusammengeschaut werden, zitierte der Freiburger Dogmatiker Ratzinger und bilanzierte: „Mit Hilfe des Begriffs der lebendigen Überlieferung ist es Dei Verbum gelungen, den Gegensatz zwischen Schrift und Tradition, wie er die Kontroverstheologie beherrschte, zu überwinden.“ Frei von Defiziten ist die Konstitution au Hopings Sicht allerdings nicht. Er erinnerte daran, dass Dei Verbum die Frage nach den Kriterien des Glaubenssinns im Leben der Kirche offenlasse. Auch fehle es im Text an einer deutlichen Unterscheidung zwischen der einen authentischen Glaubensüberlieferung und den zahlreichen Traditionen der Kirche. Darüber hinaus bleibt die Konstitution Hoping zufolge allgemein in Bezug auf die Rolle des Lehramtes bei der Schriftauslegung ohne zu definieren, worin die Aufsicht des Lehramts genau bestehe. Offen bleibe darüber hinaus die Frage, wie die verschiedenen Schriften des Alten und Neuen Testaments inspiriert seien.

 

Auch aus exegetischer Perspektive bescheinigte der Neutestamentler Marius Reiser der Konstitution „einen empfindlichen Mangel“ mit Blick auf die Aufgabe, die Heilige Schrift auch geistlich zu verstehen. Auf welche Weise soll Gottes Wort aus dem Menschenwort herausgefunden werden? Steckt Gottes Wort doch überall und vollständig im Buchstaben? Wenn ja, wozu bedarf es dann überhaupt der Inspiration durch den Heiligen Geist – sei es auf Seiten des Textes oder auf Seiten des Auslegers?

 

Reiser zufolge verweist die Konstitution zwar auf das alte hermeneutische Prinzip, dass die Bibel in dem Geist zu lesen und zu interpretieren sei, in dem sie verfasst wurde. Doch werde „nur merkwürdig andeutungsweise“ von der Aufgabe gesprochen, die Texte über das auf der Hand Liegende hinaus zu interpretieren. „Die Sinndimension des Heiligen Geistes wird nicht einmal ausdrücklich genannt“, stellte Reiser fest. In der Konzilskonstitution werde die Aufgabe des Exegeten nur vage umschrieben als „rechte Ermittlung des Sinns der heiligen Texte“, doch finde sich keiner der in der lateinischen Tradition verankerten Begriffe für die zweite Sinndimension. „Nirgends wird die Notwendigkeit eines ,eigenen Grundsatzes‘ der Schriftauslegung aus ihrem Charakter als Offenbarung abgeleitet“, so der Neutestamentler. Den Grund dieses Defizits verortete Reiser im fehlenden Konsens der Konzilsväter: Da die traditionelle Formulierung der allegorischen Deutung in der Exegese vielen Konzilsvätern als obsolet galt und die Idee eines Mehr an Sinn, der im Rahmen des wörtlichen Sinns bleiben sollte, umstritten war, blieb eine Leerstelle. Auch wenn Joseph Ratzinger die Auffassung vertrat, die sorgfältige Lektüre des ganzen Textes erschließe „die wesentlichen Elemente für eine Synthese zwischen historischer Methode und theologischer Hermeneutik“, räumte er 1989 ein, der Zusammenhang sei „nicht ohne weiteres greifbar“. Im Apostolischen Schreiben Verbum Domini ging Papst Benedikt 2010 allerdings näher auf die Ebenen ein, die bei der Auslegung der Heiligen Schrift zu berücksichtigen sind. Reiser selbst empfahl den Exegeten, sich wieder gründlicher mit der Väterauslegung zu befassen und „ein neues Verständnis der allegorischen Auslegungsweise suchen“.

 

Angeregt diskutiert wurde in Regensburg der Vorschlag eines Teilnehmers, Tradition als Brücke zwischen Schrift und Kirche zu betrachten. Da Tradition im Verständnis Joseph Ratzingers identisch mit der Regula fidei (Glaubensregel) sei, könne er dem Vorschlag zustimmen, erklärte Reiser. Hoping bevorzugte mit Blick auf die Konzilskonstitution eine differenzierte Sichtweise. Dei Verbum spreche einerseits von der „Überlieferung und der Heiligen Schrift“ und lege einen Begriff der Tradition zugrunde, der Überlieferung in einem umfassenderen Sinne meine. Überlieferung umfasse folglich Schrift und Tradition, da die die Schriften selbst Tradition seien, so der Dogmatiker. Darüber hinaus sei in Dei Verbum allerdings auch von „Schrift und Tradition“ die Rede: Hier sei Tradition im Sinne einer Unterscheidung von der Schrift gemeint. Hoping stimmte der Formulierung zu, Tradition sei die Brücke zwischen Schrift und Kirche, vorausgesetzt, Tradition meine die Weitergabe der Wahrheit des Evangeliums durch die Geschichte. In einem weiter gefassten Begriff von Überlieferung seien Schrift, Tradition und Kirche nach dem Verständnis von Dei Verbum jedoch „ein einziges Überlieferungsgeschehen“.

 

Das von Christian Schaller, dem stellvertretendenden Direktor des Instituts Papst Benedikt, souverän moderierte Symposion zeigte, wie viele Punkte zum Offenbarungsverständnis und dem Verhältnis von Schrift und Tradition seit Konzilsende einerseits noch zu klären, andererseits zu würdigen bleiben. Vor allem der Kirchenbegriff wirft Fragen auf. Bischof Rudolf Voderholzers Hinweis „Überlieferung für Joseph Ratzinger der vom Heiligen Geist ermöglichte und getragene Prozess der je neuen Aneignung und des vertieften Verstehens des in der Schrift bezeugten Offenbarungsgeschehens im Glaubensbewusstsein der Kirche“ bot in Regensburg Diskussionsstoff. In den Händen der lebendigen Kirche erst wird Verkündigung zur Offenbarung, so der Konsens. Doch wer ist Kirche? Die Antwort findet sich in der zweiten dogmatischen Konzilskonstiution Lumen gentium. In der Tradition der Kirchenväter erkannten die Konzilsväter Maria als Urbild der Kirche. Wörtlich formulierte Voderholzer in seinem Redetext, der wegen des Ad-limina-Besuchs der deutschen Bischöfe verlesen wurde: „In Maria erkennen wir, wie hoch der menschliche Anteil am Offenbarungsgeschehen Gottes ist.“ Es sei der Glaube Mariens, der in der Kirche lebendig sein müsse und den toten Buchstaben zum Wort werden lasse. Voderholzers Fazit: „Christus wird lebendig aus den Schriften, wenn sie im Geist Marias meditiert und gelesen und verstanden werden“.

 

Joseph Ratzingers Kritik am Schema „De fontibus revelationes“ ist nachzulesen im Band 7 der Gesammelten Schriften Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. (Herder, 2012). Infos zur Ausgabe: www.institut-papst-benedikt.de