Was von Europas Wurzeln übrig blieb
DT vom 04.05.2017, Nr. 53, S. 10, von Regina Einig
Zum 90. Geburtstag von Benedikt XVI. befasst sich eine Münchner Tagung mit den christlichen Grundlagen des Kontinents.
Entweltlichung lautete 2011 die unbequeme Forderung von Papst Benedikt XVI. an die Kirche in Deutschland. Wie aktuell sie gut fünfeinhalb Jahre nach der Freiburger Rede ist, legte Udo Di Fabio, Bundesverfassungsrichter a.D., bei der gemeinsamen Tagung „Europa christlich?“ der katholischen Akademie Bayern, der Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI. Stiftung und des Regensburger Papst Benedikt Instituts aus Anlass des 90. Geburtstags des emeritierten Papstes Benedikt XVI. in München nahe. Beispiel Öffentlichkeitsarbeit: Die Kirchen, so Di Fabio, seien heute zwar anerkannte Verbände, auf politischen Podien, in Rundfunkräten, Ethikkommissionen nicht nur geduldete, sondern „durchaus erwünschte Akteure“, doch gelte das nur, „wenn sie nicht sperrig in ihrem Glaubensbekenntnis oder in ihren ethischen Positionen sind“ und sich politisch anschlussfähig artikulieren, am besten nahe an den herrschenden aktuellen Wertauffassungen. Das Andere der Religion sei weniger gefragt, sondern eher „funktional passgenaue Aussagen und Bestätigung, gerade denn, wenn die Identität der Gesellschaft Zweifel aufwirft“, weil man sich von ihnen eine Art Unterstützung und Identitätsstärkung erwarte und nannte als Beispiel die Flüchtlingskrise.
Auch einem Theologen vom Format Joseph Ratzingers zieht eine solche gesellschaftspolitische Konstellation Grenzen. „Im öffentlichen Meinungsraum mit seinen überaus einfachen Rezeptionsstrukturen von Gut und Böse und richtig und falsch wird eine Theologie wie die des emeritierten Papstes schlicht nicht verstanden“, stellte der vormalige Bundesverfassungsrichter fest und verortete hier das eigentliche Problem: Ohne die jahrtausendealte Dialektik von Glaube und Vernunft sei das europäische Gesellschaftsmodell nicht nachhaltig könne sich nicht wirklich überzeugend erklären. Di Fabio forderte eine Aufklärung zweiter Ordnung, „die viel früher anfängt als im 18. Jahrhundert“. Das Grundgesetz selbst greift aus seiner Sicht viel tiefer: der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes deutet das Böckenförde-Diktum an, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.
Das hat Konsequenzen: Di Fabio wies darauf hin, dass der Mensch und sein Verstandesvermögen weder der letzte noch der einzige Maßstab für die Rechtsordnung seien. „Die Kompassnadel der Vernunft braucht den magnetischen Pol außerhalb des eigenen Blickfelds.“ Niemand habe in der Theologie der vergangenen Jahrzehnte anspruchsvoller den dialektischen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft so deutlich gemacht wie Joseph Ratzinger. Dessen Auffassung von menschlicher Freiheit sei keine Aufklärung, die gegen die Metaphysik rebelliere, sondern eine, die aus dem Evangelium eine Orientierung für die Freiheit des Menschen zu gewinnen suche. Auch eine Idee der Freiheit, die unhintergehbar im menschlichen Willen ihren letzten Grund finde, brauche den jenseits der eigenen Verfügbarkeit liegenden letzten Grund, damit sie als individuelle Freiheit möglich bleiben kann, unterstrich der Staatsrechtler. „Diese dialektische Beziehung ist unserer Zeit so fremd und sie ist Benedikt nie fremd gewesen.“
Mit Blick auf die totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts unterstrich Di Fabio, diese hätten mit ihrer Vorstellung von einer richtigen Gesellschaft jenseits der christlichen und philosophischen Tradition, letztlich eine metaphysische Leerstelle im westlichen System aufgebrochen. „Wenn diese metaphysische Leerstelle heute weiterbesteht, ist es jederzeit möglich, dass solche politischen Deformierungen wieder wachsen und gefährlich werden.“ Um die Frage, wie Europa sein metaphysisches Defizit ausgleichen könne, zu beantworten, sei es notwendig, sich der üblichen politischen Rechts-Links-Mechanik entziehen. „Wer an die antiken und christlichen Wurzeln Europas erinnert ist nicht per se in irgendeiner Form rechts“, so Di Fabio wörtlich.
Selbstkritische Töne stimmte Andrej Æilerdžiæ, Bischof der serbisch-orthodoxen Kirche von Österreich, Schweiz und Italien in der Diskussion an. Die Christen hätten in der Kirchengeschichte die anderen Religionen unterschätzt und nannte pars pro toto dafür den Islam. Der Fall von Konstantinopel habe zu einem ersten Dialog zwischen Eroberern und Eroberten geführt. Mit Blick auf den künftigen interreligiösen Dialog traute Bischof Æilerdžiæ der Orthodoxie – „nach fünfhundert Jahren Monolog“ eine wichtige Rolle zu.
Wäre es wünschenswert, dass sich der interreligiöse Dialog heute mit Säkularisierungsbewegungen paart? Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff legte das in ihren Überlegungen zur Frage, was für die Christen spricht, nahe. Zur Untermauerung ihrer These, die Politisierung der Religionen stifte Unheil und auch den Christen bekomme die Verschwisterung mit der Macht nicht –, holte sie zum eloquenten Rundumschlag aus – vom Mittelalter über die Inquisition bis zur gegenwärtigen polnischen Regierung. Letztere stufte sie allerdings als „zahnloses Tigerchen“ ein und verwies stattdessen auf „das schreckliche Privileg des Islam“, der inzwischen viele Länder verheere und abertausende Opfer auf das Gewissen geladen habe.
Zweifellos habe es den Christen gutgetan, im Prozess der Säkularisierung aus den Sälen der Macht allmählich verdrängt worden zu sein. „Damit ist die Bahn wieder frei für das christliche Kerngeschäft. Und dieses Kerngeschäft ist einzigartig, in einen Mantel gehüllt von betörender Würde und Schönheit.“ Geradezu hymnisch rühmte die Berliner Schriftstellerin den „herzerwärmenden Glanz der christlichen Botschaft“. Diesen Glanz machte sie vor allem an der Hinwendung der Christen zu den Armen und Geknechteten aus. Jesus räume mit seinem Erlösungsversprechen Menschen, die kein Ansehen und kein Vermögen besitzen, geradezu königliche Rechte ein. „Das ist revolutionär im besten Sinne.“ Angesichts der politischen Umsetzung der christlichen Botschaft warnte Lewitscharoff vor Unbedarftheit. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise sprach sie von einem „Riesenproblem, das nicht einfach nur mit Gutherzigkeit und guten Worten zu lösen ist“. Zwar dürfe der einzelne Christ nach dieser Devise handeln, doch Politiker können dies wohl kaum. Eine möglichst rasche Säkularisierung des Islam wäre aus Lewitscharoffs Sicht wünschenswert. „Es wird auch dem Islam guttun, wenn er sich in die eigenen Schranken begibt und keine Ausflüge mehr in die Domäne des Politischen unternimmt.“
Doch radikale politische Abstinenz wird den Religionsführern wohl auch in Zukunft nicht zu verordnen sein, allein schon, um im Bedarfsfall korrigierend einzugreifen. Auch Lewitscharoff zeigte sich in der Diskussion schockiert über die Verwahrlosung der politischen Kultur in einem traditionell christlichen Land wie Italien, ohne allerdings zu sagen, wer die Weichen in eine bessere Zukunft stellen könnte. Mit Blick auf eine neue politische Kultur verwies Johannes Singhammer, Vizepräsident des Deutschen Bundestags auf die Bundestagsrede Benedikts XVI. Der Papst hatte darin unterstrichen, dass erst von der Überzeugung eines Schöpfergottes her die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht und die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde entwickelt worden sei und die Erkenntnisse der Vernunft genannt, die das kulturelle Gedächtnis prägen. Für Singhammer hat Benedikt XVI. damit mehr als vorübergehende Streiflichter an die Wand geworfen, sondern „die feste, belastbare Treppe in eine sichere Zukunft“ beschrieben“.
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