„Ratzinger ist kein Nostalgiker“
katholisch.de, 15.04.2017, Interview von Kilian Martin
Geht es um Benedikt XVI., wird stets auf seine Theologie verwiesen. Doch was genau ist sein Verdienst? Christian Schaller vom Institut Papst Benedikt XVI. erklärt, warum es das „Meisterwerk“ gar nicht gibt.
Frage: Herr Schaller, Joseph Ratzinger hat zu jedem Feld der Theologie wichtige und große Schriften veröffentlicht. Wo liegen seine Schwerpunkte?
Christian Schaller: Drei Punkte sind entscheidend. Der erste ist die Theologie der Liturgie. Für Ratzinger ist der Gottesdienst Kulminationspunkt der Kirche. Sie ist die Gemeinschaft derer, die von Christus gerufen sind. Sie werden dadurch zu einem Leib, dem Leib Christi.
Der zweite Punkt ist die Frage des Menschen, also die anthropologische Dimension der Theologie. Darin liegt ein ganz personaler Gedanke vom Einzelnen und seiner Verantwortung vor Gott für sein Leben zwischen Schöpfung und Vollendung.
Und der dritte Punkt ist die zentrale Gestalt unseres Glaubens: Jesus von Nazareth. Das hat Benedikt XVI. nicht nur durch seine drei Jesus-Bücher dokumentiert. Es zieht sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Werk. Es dreht sich um die christologische Mitte, um die Begegnung mit Jesus Christus. Darin zeigt sich auch wieder die anthropologische Dimension: Der Mensch kann sich einer Person annähern, die ganz konkret in die Geschichte eingetreten ist als der Sohn Gottes.
Frage: Dürfen die angesprochenen Jesus-Bücher zu Ratzingers wissenschaftlichem Werk gezählt werden? Sie sind spürbar spirituell geprägt und nicht im klassischen akademischen Stil gehalten.
Schaller: Ich rechne sie auf jeden Fall zu Ratzingers wissenschaftlichem Werk. Sie sind typisch für seine Art, Theologie zu betreiben. Bei ihm ist es immer sehr stark eine narrative Theologie gewesen, die erklärend und werbend ist, die das Schöne, Wichtige und Gute betont. Diese Theologie hat sich weniger in die Verästelungen der Dogmengeschichte hineingelassen, sondern immer das Fundamentale gesehen, das worum es geht. Sein ganzes Œuvre ist eine narrative Theologie, die aus einem unglaublichen Wissen schöpft, aber den Anspruch einer verständlichen Vermittlung hat.
Frage: Wie passt das mit Ratzingers Persönlichkeit zusammen, die ja doch eine sehr nüchterne, strukturierte, ja, akademische ist?
Schaller: Ich glaube, dass man da überzeichnet. Ich habe ihn immer als einen freundlichen, neugierigen, humorvollen und auf das Wesentliche schauenden Menschen erlebt. So lese ich ihn auch in der Gesamtausgabe, die wir im Institut erstellen. Akademisches Wirken heißt nicht, sich immer mit zehntausend Fußnoten über das Papier zu schlängeln. Es ist in erster Linie ein Aneignen von Wissen und dann der Versuch, es so zu vermitteln, dass sowohl Studenten an der Universität als auch Gläubige in der Messe die Predigt verstehen. Das ist ihm immer wie kaum einem anderen gelungen.
Frage: Sie sagen, das ist ihm immer gelungen. Es gibt aber auch die berühmte Anekdote von seiner Habilitationsschrift: Der Zweitprüfer lehnte sie ab, der junge Theologe Ratzinger musste sie komplett umarbeiten. Den ersten Entwurf hat er dann vor Wut kurzerhand in den Ofen geworfen, wie er später erzählte. Gibt es auch veröffentlichte Schriften, die einen „nur“ durchschnittlichen Ratzinger zeigen, der nicht herausragend ist?
Schaller: Er hat natürlich einen sehr hohen Anspruch an seine Veröffentlichungen. Es wurde immer nur das herausgegeben, was wirklich ausgereift war. Insofern war das Niveau gegeben. Und das kann ich bei Ratzinger immer sehen, egal ob ich einen Text von 1955 oder von 2005 lese. Ich erkenne überall den gleichen Willen: Wissen aneignen und verständlich vermitteln, angepasst an den Adressaten.
Frage: Ist es dieses qualitative Niveau, was ihn zu dem großen Theologen macht, als der er immer bezeichnet wird?
Schaller: Das bezieht sich einerseits auf die Kontinuität seiner Präsenz in der wissenschaftlichen Landschaft; und zwar nicht nur in Deutschland, sondern international. Hinzu kommt die Anerkennung als Wissenschaftler, die seinem Wesen gilt, den Dingen auf den Grund zu gehen, neugierig nachzufragen, interessiert zu sein an den Dingen, die die Welt und den Menschen in seinem Alltag bewegen. Das ist sein Markenzeichen. Beides zusammen, die Kontinuität im Schaffen über 50 Jahre hinweg und zugleich anerkannt zu sein, das macht Ratzinger zum großen Theologen. Und das kenne ich in dieser Weise von keinem zeitgenössischen Gelehrten unserer Breitengrade.
Frage: Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., wird zweifelsohne noch lange Zeit gelesen und studiert werden. Wird er damit auch der Begründer einer theologischen Schule sein, wie es die großen Theologen der Vergangenheit waren?
Schaller: Das glaube ich nicht. Vor allem, weil es ihm selbst widerstreben würde, ihn als Gewährsmann für bestimmte Ideen zu nehmen. Er ist viel zu bescheiden, als dass man von einer Ratzinger-Schule sprechen sollte. Er prägt die theologische Landschaft, indem er auf den Glauben verweist, auf die Lehre der Kirche, auf die Hoffnungen der Menschen. Das wollte er immer tiefer verstehen und vermitteln. Seine „Schule“ wird vielleicht darin bestehen, dass man den Glauben der Kirche vertieft und erklärt.
Frage: Das klingt fast so, als hätte er nur das Vorhandene betrachtet aber keine neuen Erkenntnisse gebracht?
Schaller: Doch, das hat er natürlich schon. Bahnbrechende Erkenntnisse kann man schließlich auch in der Vertiefung des bereits Bekannten haben. Das gilt etwa für Ratzingers Zugang zum Offenbarungsbegriff: Offenbarung ist nicht etwas Statisches, was vom Himmel fällt und ewig gleich bleibt, sondern ein dynamischer Prozess. Das ist wieder gekoppelt an die Vorstellung, dass der Mensch der Person Jesus von Nazareth begegnet. Offenbarung ist für Ratzinger ein organisches, sich im eigenen Leben entwickelndes Phänomen, das sich spiegelt im Leben und Glauben der Kirche. Damit hat er schon am Vorabend des Konzils die Offenbarungskonstitution „Dei verbum“ maßgeblich beeinflusst.
Frage: Gibt es zu diesem zentralen Thema auch ein großes „Meisterwerk“ Ratzingers?
Schaller: Das vielleicht nicht. Aber es gibt einen bekannten Vortrag, den er wortwörtlich am Abend, bevor das Konzil losging, in Rom gehalten hat. Darin ging es um den Offenbarungsbegriff. Ratzinger sorgte damit für die Kehrtwende, Offenbarung nicht mehr statisch, sondern dynamisch zu verstehen.
Frage: Das war vor dem Konzil. Viele Kritiker werfen Ratzinger aber eine Kehrtwende insbesondere nach dem Konzil vor. Was halten Sie davon?
Schaller: Man versucht oft, den „modernen“ und den „konservativen“ Ratzinger gegeneinander auszuspielen. Ich kenne sein Werk sehr gut und kann keinen solchen Bruch sehen. Es gibt natürlich Vertiefungen und Konkretisierungen bei gewissen Themen. Aber sein Werk ist konstant orientiert an der Lehre der Kirche. Oft wurde ihm auch vorgeworfen, er würde hinter das Konzil zurückgehen wollen. Dazu sage ich: Man kann Ratzinger nicht vom Konzil trennen. Als Konzilstheologe und Berater von Kardinal Frings hat er maßgebliche Texte verfasst, die dann Einfluss auf die Konzilsdokumente hatten. Das Konzil trägt in vielen Punkten die Handschrift eines Joseph Ratzinger.
Frage: Sie hatten erklärt, dass die Liturgie in Ratzingers Werk einen hohen Stellenwert hat. An den Konzilsberatungen dazu hatte er ja noch nicht teilgenommen. Aber wie hat das Konzil umgekehrt sein Denken über Liturgie beeinflusst?
Schaller: Sein Denken war immer von einer theologischen Weite beseelt. Er hat sich dem Neuen nie verstellt, er war kein Nostalgiker. Er war eher neugierig. Das Konzil hat er sehr ernst genommen. Ratzinger war ja auch einer der ganz eifrigen Kommentatoren in den Medien. Der Rezeption des Konzils hat er große Dienste geleistet, bis in seine Zeit als Papst hinein. Wie sehr es ihn persönlich betroffen hat, wird beispielsweise durch seine letzte Ansprache als Papst an den Klerus von Rom deutlich. Da schilderte er, wie begeistert er war von diesem Aufbruch und davon, die damals vorherrschende rückwärtsgewandte Schule der Neuscholastik aufzubrechen und zu einer geschichtlichen Theologie zu kommen. Das Neue hat ihn begeistert.
Frage: Für die meisten Gläubigen ist Liturgie etwas Praktisches und nicht in erster Linie theologisches Denken. Inwiefern wurde das für Papst Benedikt XVI. und seine Haltung zur Liturgie zum Problem?
Schaller: Da wurde oft einfach die Schablone „außerordentlicher Ritus“ drüber gelegt. Das greift natürlich zu kurz. Bei Ratzinger geht es um den Kern der Liturgie und nicht bloß um Zelebrationsrichtung oder lateinische Sprache. Es geht darum, dass sich der Mensch in einen Dienst begibt, weil wir von Jesus Christus selbst zu dieser Liturgie gerufen sind. Liturgie ist Christusgemeinschaft. Auf solche wesentlichen Elemente ist es ihm angekommen, nicht auf die äußeren Fragen. Natürlich immer im Wissen, dass es unpassende und fragwürdige Entwicklungen in der Liturgie gibt.
Frage: Es heißt, das umfassende theologische Erbe Joseph Ratzingers müsse erst noch gehoben werden. Worin wird das bestehen?
Schaller: Ich hoffe natürlich, dass seine Theologie in den nächsten Jahrhunderten im Gespräch bleibt. Dafür wollen wir am Institut unseren Beitrag leisten. Und die Rezeption wird wohl erst dann richtig losgehen, wenn sein Gesamtwerk komplett veröffentlicht ist. Dann wird man alle Querverbindungen sehen. Ein zentraler Gedanke in der Theologie ist die Einheit der verschiedenen Traktate. Und Joseph Ratzinger hat immer synthetisch gedacht, er kann Themen zusammen betrachten und miteinander verknüpfen. Viel zu erfahren sein wird auch bei der Frage, mit welcher Methode man Theologie betreibt. Bei Ratzinger geht es da wie gesagt vor allem um ein personales, anthropologisches Denken.
Frage: In seinen „Letzten Gesprächen“ bekannte der emeritierte Papst, dass er sich nun im hohen Alter vor allem mit der Eschatologie, mit der Frage nach den letzten Dingen also, beschäftigt. Kommt da noch eine Veröffentlichung?
Schaller: Nein, das sicher nicht. Aber er hat sich mit einem Lehrbuch schon 1977 an der Diskussion zu eschatologischen Fragen beteiligt. Er nannte es einmal sein am besten durchgearbeitetes Buch. Dass man sich mit fast 90 Jahren mit solchen Fragen beschäftigt, ist naheliegend. Und so wie ich das sehe, geht er damit als glaubender Mensch gelassen um.