Nicht ohne den jüngeren Bruder
DT vom 27.08.2013, Nr. 103, S. 6. von Michael Karger
Johann Nußbaum würdigt die Lebensleistung von Maria Ratzinger
In Rimsting am Chiemsee ist die Mutter von Papst Benedikt aufgewachsen und zur Schule gegangen. Dort kümmerte sie sich um ihre sieben jüngeren Geschwister und half in der kleinen Dorfbäckerei der Eltern mit. Der in Rimsting angesiedelte pensionierte Ministerialrat Diplomingenieur Johann Nußbaum veröffentlichte 2006 den Band „Poetisch und herzensgut – Die Spuren des Papstes und seiner Familie in Rimsting.“ Nach dieser verdienstlichen Arbeit über die Vorfahren der mütterlichen Seite des Papstes weitete Nußbaum in einem zweiten Bändchen mit dem Titel „Ich werde mal Kardinal!“ seine biografische Darstellung auf Kindheit, Jugend und Studienzeit bis zur Priesterweihe von Papst Benedikt aus. Nun ist eine erweiterte Neuauflage erschienen. Das früheste überlieferte eigenhändige Schriftstück von Joseph Ratzinger, der Brief an das Christkind vom Dezember 1934, wird abgebildet. Wie sehr die Familie Ratzinger durch die Liturgische Bewegung geprägt war, bezeugt der Weihnachtswunsch des Siebenjährigen: Er möchte ein eigenes Schott-Messbuch haben.
Erstmals publiziert wird ein Foto, das Joseph Ratzinger im Kreise von Kameraden auf dem Truppenübungsplatz bei Traunstein 1944 oder 1945 in Wehrmachtsuniform zeigen soll. Ob es sich aber bei dem Abgebildeten wirklich um Joseph Ratzinger handelt, scheint fraglich. Zu den Ergänzungen zum Aufenthalt Ratzingers im Gefangenenlager der US-Armee auf dem Flugplatzgelände bei Bad Aibling als einer von 65 000 deutschen Kriegsteilnehmer hätte man noch auf die Autobiografie von Günter Grass hinweisen können. Grass war nach eigenen Angaben auch unter den Kriegsgefangenen, wenn auch die Behauptung des Soldaten der Waffen-SS, mit dem späteren Papst zusammen beim Würfelspiel gesessen zu haben, mehr Dichtung als Wahrheit ist. In seinem Bericht über das zweite Lager in Neu-Ulm mit insgesamt 50 000 Gefangenen zitiert der Verfasser aus den Erinnerungen des Papstes, der von Vortragsprogrammen berichtet, die die Gefangenen selbst organisiert haben. Zuerst seien die Landwirte und alle Soldaten mit zum Wiederaufbau wichtigen Berufen entlassen worden. Zuletzt kamen die Studenten und Schüler frei.
Neu aufgenommen wurden auch Erinnerungen von Rupert Berger an die mit Ratzinger gemeinsam verbrachte Zeit im Exerzitienhaus des Erzbistums München und Freising in Schloss Fürstenried bei München, wohin man die Seminaristen des zerstörten Herzoglichen Georgianums mit ihrem Regens, dem Liturgiewissenschaftler Josef Pascher, und die gesamte Theologische Fakultät ausgelagert hatte. Unter den promovierenden Priestern in Fürstenried war damals auch der spätere Bischof von Passau Antonius Hofmann. Zum Wiederaufbau des stark zerstörten Georgianums fuhren die Seminaristen Samstags in die Ludwigstraße. Im gerade mal provisorisch hergerichteten Georgianum teilten sich 1949 die beiden Traunsteiner Kurskollegen Berger und Ratzinger ein Zimmer. Zum Foto von der Primizmesse von Rupert Berger wären genauere Angaben zu den Abgebildeten wünschenswert gewesen. Man sieht den Vater von Berger, Rupert Berger sen., den damaligen Bürgermeister von Traunstein, ein Verfolgter des NS-Regimes, Lagerhäftling in Dachau, sowie den damaligen Präsidenten den Bayerischen Landtags Hundhammer, ebenfalls Lagerhäftling in Dachau. Hundhammer und Berger sind Mitbegründer der CSU.
Nach dem Kapitel über die Primizmessen der Ratzinger Brüder schiebt der Verfasser ein neues Kapitel über die Feier des 60-jährigen Priesterjubiläums von Papst Benedikt am 29. Juni 2012 in Rom ein. Was die erweiterte Neuausgabe über diese kleineren Ergänzungen hinaus wirklich wertvoll macht, ist das neue Kapitel über die Schwester des Papstes, Maria Ratzinger. Geboren 1921 in Pleiskirchen, ging Maria in Marktl in die Schule, besuchte die Mädchen-Realschule in Tittmoning und die Realschule der Franziskanerinnen in Kloster Au am Inn. Dort lernte sie neben Hauswirtschaft auch Stenografie, Buchführung und Maschinenschreiben, Fertigkeiten, die sie als Mitarbeiterin ihres Bruders Joseph später einbringen konnte. Alle Manuskripte für Publikationen und die Korrespondenz ihres Bruders Joseph auf all seinen Stationen als Wissenschaftler von Bonn bis Regensburg wurden von Maria neben der Haushaltsführung getippt. Ihr Berufswunsch, Lehrerin zu werden, hat sich nicht erfüllt.
Nach der Schule arbeitete Maria Ratzinger als Sekretärin in Traunstein und trug zum Unterhalt der Familie und zur Finanzierung der Ausbildung ihrer beiden Brüder bei. In Traunstein war Maria in einer Anwaltskanzlei und später in einer großen Eisenwarenhandlung im Büro beschäftigt. Aus den Ausführungen geht nicht hervor, dass Maria Ratzinger zu ihrem Bruder Joseph auf den Domberg in Freising gezogen ist, nachdem dieser dort mit der Übernahme einer Dozentenstelle an der Hochschule eine große Professorenwohnung beziehen konnte, in die er auch die betagten Eltern aufgenommen hatte.
Nach den wissenschaftlichen Wanderjahren und der Konzilsära mit den Stationen Bonn, Münster und Tübingen baute sich Joseph Ratzinger nach seiner Berufung an die neu gegründete Universität Regensburg ein eigenes Haus in Pentling. Das eigene Haus war von 1970 bis 1977 der Lebensmittelpunkt von Joseph und Maria Ratzinger, in dem auch Bruder Georg, Domkapellmeister in Regensburg, häufig zu Gast war. Nach der Ernennung des Bruders zum Erzbischof von München und Freising 1977 zog Maria mit in das Palais in München ein und blieb als engste Mitarbeiterin an der Seite des Bruders.
Auch als Joseph Ratzinger dem dringenden Wunsch von Papst Johannes Paul II. entsprach und 1982 die Aufgabe des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre übernahm, folgte ihm seine Schwester Maria nach Rom. Zum jährlichen Besuch am Grab der Eltern auf dem Ziegetsdorfer Friedhof in Regensburg an Allerseelen war Maria Ratzinger auch 1991 von Rom nach Pentling gekommen. Mit Herzbeschwerden wurde sie ins Krankenhaus gebracht, wo sie am 2. November nach einer Gehirnblutung mit 69 Jahren unerwartet verstarb. An ihrer Bestattung im Elterngrab nahmen unter anderem auch die Kardinäle Friedrich Wetter und Augustin Mayer sowie der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann teil.
Eine schöne Würdigung von Maria Ratzinger stammt von dem Ratzinger-Schüler und emeritierten Dogmatikprofessor Wolfgang Beinert: „Maria Ratzinger war eine zwar stille, doch hoch begabte und intelligente Frau, die allerdings auf jegliche Eigenständigkeit zugunsten ihres jüngsten Bruders, des späteren Papstes, verzichtete … das Geheimnis ihres Lebens: Es ist Dienen gewesen.“
Den Abschluss des Bandes bildet ein neues Kapitel über den Rücktritt von Papst Benedikt mit einem Bericht von seiner letzten Generalaudienz. Dem Verfasser gebührt Dank, dass er in seiner Neuausgabe Maria Ratzinger ihrer Bedeutung gemäß aus dem Schattendasein geholt und an die Seite ihrer Brüder gestellt hat. Man hätte sich nur noch ein Literaturverzeichnis und durchgängig angegebene Quellen gewünscht.
Johann Nußbaum: „Ich werde mal Kardinal!“ Wurzeln, Kindheit, Jugend, Kriegsgefangenschaft, Studium, Priesterweihe und Rücktritt von Papst Benedikt XVI. und das Leben seiner Schwester Maria Ratzinger. Herausgegeben von der Gemeinde Rimsting, 152 Seiten gebunden, 2013, Rieder-Druck Prien am Chiemsee, EUR 19,80