Kommentar
DT vom 23.05.2013, Nr. 62, S.6. von Michael Karger
Nach den üblichen Schnellschüssen liegen inzwischen einige anspruchsvollere Würdigungen der Amtszeit von Papst Benedikt XVI. vor. Eine ausführliche Chronik des knapp achtjährigen Pontifikats hat der Kirchenhistoriker Harm Klueting in Theologisches (3/4 2013) zusammengestellt. Seine Deutung des bereits 2006 vollzogenen Verzichts von Papst Benedikt auf den bedeutenden Titel „Patriarch des Abendlandes“ als bloße Bescheidenheitsgeste bleibt allerdings vordergründig. Zwischen 2007 und 2012 erschien das dreibändige Werk „Jesus von Nazareth.“ Klueting sieht darin „mehr ein Werk der persönlichen Frömmigkeit des Verfassers als ein(en) Beitrag zur exegetischen Forschung.“ Damit wird er der Eigenart dieses bedeutenden theologischen Werkes nicht gerecht. Es handelt sich vielmehr um den Nachweis eines systematischen Theologen, dass der von der Kirche verkündete und in den Evangelien bezeugte Jesus Christus glaubwürdig ist und dass der Christusglaube der Kirche sehr wohl mit den Ergebnissen einer seriösen Bibelwissenschaft vereinbar ist. In dieser Hinsicht ging es Papst Benedikt mit seiner Trilogie um deutlich mehr als um ein Zeugnis seiner „persönlichen Frömmigkeit“. Den Enzykliken über die Liebe und die Hoffnung, „Deus Caritas est“ (2005) und „Spe Salvi“ (2007), hätte noch ein drittes, die theologischen Tugenden abschließendes Rundschreiben über den Glauben folgen sollen. Durch den Rücktritt ist der Zyklus Fragment geblieben. Alle Enzykliken, einschließlich der ausführlichen Sozialenzyklika „Caritas in Veritate“ (2009), hat der Verfasser knapp zusammengefasst. Drei besondere Gedenkjahre hat Papst Benedikt ausgerufen: Das Paulusjahr (2009), das Priesterjahr (2009–2010) und das „Jahr des Glaubens“ zur Feier des 50. Jahrestages des Beginns des Zweiten Vatikanischen Konzils (2012–2013), innerhalb dessen Benedikt XVI., einer der wenigen noch lebenden prägenden Mitgestalter der Kirchenversammlung, sein Amt aufgegeben hat. Den interreligiösen Dialog betreffend hebt der Verfasser die Teilnahme von Papst Benedikt zusammen mit dreihundert weiteren Vertretern anderer Religionen am 3. Weltfriedenstreffen in Assisi hervor, dessen Einführung durch Johannes Paul II. er mit Skepsis beobachtet hatte. Als einen Kommentar zur Konzilserklärung „Dignitatis humanae“ (1965) über die Religionsfreiheit versteht der Verfasser die Regensburger Rede von Papst Benedikt (2006). Ein missverständliches Zitat hatte damals die islamische Welt gegen den Papst aufgebracht. Besonders bedeutsam war hinsichtlich der Beziehungen zu den Anglikanern die Errichtung von Personalprälaturen für die zur katholischen Kirche übergetretenen Anglikaner (2009). Ehemalige anglikanische Bischöfe und Priester können die Priesterweihe empfangen und werden in die drei bestehenden Personalprälaturen inkardiniert, wobei der Empfang der Bischofsweihe für verheiratete ehemalige anglikanische Priester und Bischöfe nicht möglich ist. Eines der zentralen Themen des Pontifikats war für Klueting das Zueinander von Glaube und Vernunft. Die herausragenden Ansprachen des Papstes in Paris (2008) und London (2010) zu diesem Thema haben weltweite Aufmerksamkeit gefunden. Auf die Frage nach einem großen Projekt dieses Pontifikates verweist Klueting auf die Bemühungen Papst Benedikts, die verbreitete Vorstellung von einer überwundenen vorkonziliaren und einer traditionslosen nachkonziliaren Kirche zu überwinden und dies, ohne dabei hinter das Konzils zurückzufallen. Hatte doch Papst Benedikt bereits 2005 in einer Ansprache an das Kardinalskollegium der verbreiteten „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ die „Hermeneutik der Reform“ als die dem Wesen der Kirche entsprechende Rezeptionsweisen des Konzils gegenübergestellt.
In diesem Zusammenhang will der Verfasser auch die Bemühungen von Papst Benedikt um die Wiedereingliederung der Priesterbruderschaft Pius X. verstanden wissen. Hier hätte man auch die Vorgeschichte in die Betrachtung einbeziehen müssen. War es doch der Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger gewesen, der mit dem abtrünnigen Erzbischof Marcel Lefebvre bereits ein Abkommen ausgehandelt und unterzeichnet hatte, das Lefebvre unter dem Druck unerleuchteter Berater dann umgehend von Zuhause aus widerrufen hat. Sein Einsatz für die Einheit der Kirche brachte Papst Benedikt ungerechtfertigte Anfeindungen ein, die er für den Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson erfahren musste. Die Art und Weise, wie Papst Benedikt bei jeder Gelegenheit von den Vertretern der Bruderschaft vorgeführt und gedemütigt wurde und sich zugleich von liberaler Seite den Vorwurf des Verrats am Konzil vorhalten lassen musste, wird wohl maßgeblich zu seiner Resignation beigetragen haben. Dass die Priesterbruderschaft dabei eine historisch einmalige Chance verspielt hat, wird ihr inzwischen aufgegangen sein. Ein Jesuiten-Papst aus Südamerika wird sicherlich ganz andere Prioritäten setzen.
In der Herder Korrespondenz (3/2013 Verlag Herder Freiburg) versucht sich Ulrich Ruh an einer Bilanz des Pontifikats. Ein eigentliches „Großprojekt“ in der Regierungszeit von Papst Benedikt vermag er nicht zu erkennen. Benedikt sei auch als Papst Theologe geblieben, seine großen Reden seien „sprachlich geschliffene Kabinettstücke mit gedanklichem Tiefgang und zugleich prononciert-herausfordernden philosophisch-theologischen Spitzenaussagen“ gewesen. Ruh hat richtig erkannt, dass es in „Jesus von Nazareth“ um den Nachweis geht, dass der Jesus des Glaubens nicht im Gegensatz zum „historischen Jesus“ steht. Er bezweifelt aber das Gelingen dieses Anspruchs, wenn er schreibt: „Ob dieser Versuch eines päpstlich-theologischen Befreiungsschlags angesichts der Probleme historischer Kritik allerdings zukunftsfähig ist, muss sich erst noch zeigen. Es bleibt ja die Vielzahl der faktischen Jesusbilder innerhalb wie außerhalb der Kirche einerseits wie andererseits die Tatsache von Spannungen im Prozess der christologischen Bekenntnisbildung und ihrer späteren dogmatischen Entfaltung.“ Sich am Bekenntnisglauben der Kirche zu orientieren, erscheint demgegenüber vernünftiger, als auf eine Vereinheitlichung der unzähligen Jesusbilder zu warten. Zumindest billigt der Verfasser Papst Benedikt zu, sich mit seiner Lehrverkündigung über das Zueinander von Glaube und Vernunft „auf der Höhe der gegenwärtigen kulturellen, philosophischen und religiösen Diskurse“ bewegt zu haben.
Eine Bilanz der Amtszeit unter der Rücksicht „Papst Benedikt und die Liturgie“ zieht der Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards in der Zeitschrift Gottesdienst (7/2013 Verlag Herder Freiburg). Im Gegensatz zum Requiem für Papst Johannes Paul II., das „im besten Sinne den vom Konzil geforderten ,Glanz edler Einfachheit‘ verkörperte“, habe sich nach der Wahl von Papst Benedikt der Stil der päpstlichen Liturgie verändert. Papst Benedikt verstehe die Liturgie „weniger als Gemeinschaftsvollzug denn als Epiphanie Gottes“. Papst Benedikt habe die in dieser Hinsicht entstandenen Wunden der Liturgiereform heilen wollen. Darum sei er auch so sehr um Einheit und Kontinuität bemüht. Anerkennend heißt es: „Der Theologe auf dem Papstthron hat gewiss auch für die Theologie der Liturgie Großes geleistet.“ Andererseits heißt es aber auch: „Die konkrete feiernde Gemeinde kommt nicht eigentlich in den Blick.“ Als hinterlassene „Baustellen“ sieht der Verfasser die behauptete Einheit der „ordentlichen“ Form und der „außerordentlichen“ Form des einen römischen Ritus. Zudem habe sich die bereits unter Papst Johannes Paul II. mit der Übersetzungsinstruktion „Liturgiam authenticam“ (2001) begonnene „Konzentration des Approbationsrechts“ für die liturgischen Bücher in den jeweiligen Landessprachen „weg von den Bischofskonferenzen auf die römische Kurie“ unter Papst Benedikt fortgesetzt. Unter Hinweis auf das Schicksal des deutschsprachigen Begräbnisritus spricht der Verfasser hier von „großen Irritationen“ und wendet sich gegen eine „verordnete Einheitlichkeit“. Es geht allerdings dabei um Übersetzungsprinzipien, die bloß sinngemäße und oft allzu freie Übertragungen ausschließen sollen.