Ekklesiologie als Schriftauslegung
DT vom 05.06.2010, Nr. 66, Die Tagespost /Nr. 22, S. 4 von Michael Karger
Symposium über Joseph Ratzingers Lehre von der Kirche und seine ökumenischen Schriften
München (DT) In seiner Pfingstpredigt beantwortete Papst Benedikt XVI. die Frage, was die Geistsendung bewirkt habe. Er sagte: „Es wird ein Prozess der Wiedervereinigung unter den getrennten und verstreuten Gliedern der Menschheitsfamilie ausgelöst, die sie bis zu dem Punkt zu erfassen vermag, dass aus ihnen ein neuer Organismus, ein neues Subjekt entsteht: Die Kirche. Das ist die Wirkung des Werkes Gottes: Die Einheit: Deshalb ist die Einheit,... das Erkennungszeichen der Kirche im Lauf ihrer universalen Geschichte.“ Pfingsten als die Geburtsstunde der einen Kirche zu verstehen geht für den Papst evident aus der Apostelgeschichte
hervor. Daraus folgert er: „Die universale Kirche geht den Teilkirchen voraus, und diese müssen sich immer einem Kriterium der Einheit und Universalität entsprechend an jene angleichen. Die Kirche bleibt nie innerhalb politischer, rassischer und kultureller Grenzen gefangen; sie kann weder mit den Staaten noch mit Zusammenschlüssen von Staaten verwechselt werden, da ihre Einheit von anderer Art ist und darauf abzielt, alle menschlichen Grenzen zu überwinden.“ (DT, 26.05.2010)
Wie sehr diese Grundeinsichten bereits das Nachdenken des Fundamentaltheologen, Dogmatikprofessors und Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger bestimmt haben, wird die erste umfassende Sammlung und systematische Gliederung seiner ekklesiologischen und ökumenischen Schriften unter dem Titel „Kirche – Zeichen unter den Völkern“, die in den nächsten Tagen in zwei Teilbänden in der Werkausgabe seiner „Gesammelten Schriften“ (Band 8/1 und 8/2) erscheint, eindrucksvoll unter Beweis stellen. Im Vorgriff auf diese Veröffentlichung fand am vergangenen Samstag im Münchner Kardinal Wendel Haus eine Tagung zu einzelnen Aspekten der Ekklesiologe und den ökumenischen Beiträgen Joseph Ratzingers statt. Veranstalter war das Institut Papst Benedikt XVI. Regensburg, dessen Direktor Rudolf Voderholzer, Dogmatikprofessor in Trier, der wissenschaftlich verantwortliche Herausgeber der Werkausgabe ist. Souverän führte Voderholzer durch das dichte und anspruchsvolle Vortragsprogramm. Den Anfang machte der Bischof von Regensburg, Gerhard Ludwig Müller, der von Papst Benedikt XVI. mit der Edition seiner Schriften beauftragte Gründer des Instituts.
Eine Beschreibung der Einheit der Kirche trotz Trennung Bischof Müller, langjähriger Dogmatikprofessor in München, Mitglied der Kongregation für die Glaubenslehre und Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz, stellte das Wesen der Kirche im Anschluss an die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils dar. Bischof Müller deutete auch den bis heute sehr unterschiedlich interpretierten Ausdruck „subsistit in“ der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“. Dort heißt es: „Die Kirche, die in dieser Welt als gesellschaftliches Gebilde verfasst und geordnet ist, ist verwirklicht (subsistit in) in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (LG 1, 8). Absicht dieser Formulierung sei es, die Kontinuität der Lehre der Kirche von der Identität der Kirche Christi mit der sichtbar verfassten katholischen Kirche zu wahren und zugleich „die Einheit der Kirche zu beschreiben, die ... trotz der sichtbaren Trennung ... schon gegeben ist“. Ziel der ökumenischen Bemühungen sei die Wiederherstellung der vollen Einheit in der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Nach katholischer Auffassung sei die sichtbare Einheit in der von Papst und Bischöfen geleiteten katholischen Kirche erhalten geblieben. Auch habe die von Kardinal Ratzinger verantwortete Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Iesus“ den reformatorischen Gemeinschaften nicht „das Kirche-Sein als Teilhabe an der communio sanctorum, der Kirche im eigentlichen Sinne ..., abgesprochen.“ Es gehe um Trennungen in der einen Kirche. Weil nach katholischem Verständnis die Kirche im eigentlichen Sinn in der von einem Bischof geleiteten Ortskirche verwirklicht ist, „kann eine evangelische Kirche weder im katholischen noch im reformatorischen Sinn Kirche im eigentlichen Sinne sein.“ Auch wenn die Protestanten heute der katholischen Kirche das Kirchesein ihrerseits nicht mehr absprechen, betrachten sie sie aber auch nur als eine christliche Konfession unter vielen anderen Konfessionen. Bischof Müller begründete auch, worin die Anerkennung der Orthodoxie als „Kirche im eigentlichen Sinne“ gründet: „Innerhalb der Voraussetzungen des katholischen Kirchenbegriffs kann die römisch-katholische Kirche in den von einem legitimen Bischof geleiteten orthodoxen Diözesen eine Kirche im eigentlichen Sinn, das heißt der sichtbaren sakramentalen Vergegenwärtigung und Realisierung der Kirche Christi anerkennen, wenn sie auch auf der Vollendung der Einheit in der Gemeinschaft aller Bischöfe mit dem Papst besteht als der Aufgipfelung der sichtbaren Einheit der universalen Kirche.“ Als vordringliche Aufgabe des ökumenischen Dialogs nannte Bischof Müller die theologische Erkenntnislehre, das Zueinander von Schrift, Tradition sowie die apostolische Sukzession. Dem Bochumer Neutestamentler Thomas Söding fiel die Aufgabe zu, das Verhältnis Bibel und Kirche bei Joseph Ratzinger zu analysieren. Söding wies auf die Spannungen innerhalb der Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums hinsichtlich des Verhältnisses von Schrift und Tradition und bezüglich des Inspirationsbegriffs hin. Es fehle eine letzte Klarheit. An dieser Stelle hätte man sich vom Referenten eine Zusammenfassung der wegweisenden Klarstellungen Ratzingers zum Offenbarungsverständnis erwarten dürfen. Ausgesprochen stichworthaft war die„Analyse“ der Ekklesiologie Ratzingers aus exegetischer Sicht: Ratzinger betreibe Ekklesiologie durchweg als theologische Schriftauslegung. Dies führe positiv zu einer spirituellen Vertiefung der Lehre von der Kirche. Der Leib Christi Gedanke werde allerdings überstrapaziert, Leib Christi sei außerdem „keine urbiblische Metapher“.
Paulus habe auch andere Bilder verwendet wie etwa den Weinstock. Bei Ratzinger überwiege der präsentische Aspekt der Kirche. Es fehle etwas über die Reformfähigkeit der Kirche. Seine Auseinandersetzung mit dem Protestantismus werde nicht im Rückgriff auf die Bibel betrieben. Die Traditionskritik von der Schrift her habe Ratzinger zwar theologisch begründet, aber nicht „ekklesiologisch konkretisiert“. Das Verhältnis Israels zur Kirche werde zu wenig reflektiert. Eine exemplarische Analyse des Referenten wenigstens zu einer Stelle fehlte. Weder wird auf Ratzingers Auslegung des Pfingstereignisses, noch auf einen der zahlreichen von ihm benannten kirchengründenden Akte Jesu Christi eingegangen. Im Anschluss legte Gunther Wenz, Fundamentaltheologe und Ökumeniker an der Evangelisch- Theologischen Fakultät der Universität München, sein Manuskript über „Die große Gottesidee ,Kirche’ – Joseph Ratzinger über Katholizismus und Reformation“ beiseite und antwortete freundschaftlich und in freier Rede auf die Ausführungen von „Ökumene-Bischof“ Müller. So interessant seine engagierten Ausführungen über die Leib-Christi-Ekklesiologie als genuin evangelische Lehre, die Amtsfrage als die Kardinalfrage der ökumenischen Theologie, das Amt als Dienst an der Einheit der Kirche und die Bedeutung der apostolischen Sukzession auch waren, das ungehaltene Referat enthielt eine ausgezeichnete zusammenfassende systematische Darstellung der Ekklesiologie Ratzingers, die den Zuhörern nicht hätte vorenthalten werden dürfen, wenn man der Themenstellung hätte treu bleiben wollen. Erfrischend war die Art, in der der irische Ratzingerschüler Vincent Twomey, emeritierter Professor für Dogmatik und Moraltheologie, über drei von Professor Ratzinger in Regensburg betreute Dissertationen zur Primatslehre referierte.
Bischof von Rom als Garant für die Lehre und Freiheit der Kirche Zusammengefasst erbrachten die Arbeiten von Martin Trimpe, Pater Stephan Otto Horn und Vincent Twomey, „dass das petrinische Wesen der singulären Autorität des Bischofs von Rom innerhalb der Gesamtkirche nicht nur als letzter Garant für die von den Aposteln und Vätern tradierte Lehre der Kirche (Orthodoxie) zu verstehen ist, sondern auch als Garant für die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche dem Staat gegenüber“. Wolfgang Thönissen, Fundamentaltheologe in Paderborn und Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik informierte über „Joseph Ratzingers ökumenische Vorschläge für die Wiedergewinnung der sichtbaren Einheit der Kirche“. Seine Annahme, dass die Geburtsstunde des Ökumenikers Ratzinger mit der Aufnahme in den Beirat des Möhler-Instituts durch Lorenz Jäger zusammenfalle, ist nicht zwingend. Unter Hinweis auf Gottlieb Söhngen, den Lehrer Ratzingers, und seine Beschäftigung mit Karl Barth könnte man diese Geburtsstunde auch bereits nach München vorverlegen. Ganz offensichtlich sei Ratzinger der Impulsgeber für das Forschungsprojekt „Lehrverurteilungen kirchentrennend?“ gewesen. In Bezug auf die Lutheraner habe Ratzinger die Frage nach der Möglichkeit einer katholischen Anerkennung der Confessio Augustana in den Mittelpunkt gestellt. Hinsichtlich des Protestantismus habe Ratzinger „überkritisch“ die Kulturtradition nicht immer klar von der Bekenntnistradition unterschieden. In der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie habe vorwiegend der Primat des Papstes im Mittelpunkt gestanden. Eine besondere Bedeutung habe hier der Vorschlag Ratzingers, Rom dürfe von der Orthodoxie nicht mehr an Primatslehre verlangen, als im ersten Jahrtausend formuliert worden war. Zahlreiche Konsensdokumente mit der anglikanischen Kirche seien in den achtziger Jahren beim Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger auf Kritik gestoßen.
Eine Äußerung von Papst Benedikt XVI. auf dem Weltjugendtag 2005 habe genau benannt, worum es im ökumenischen Bemühen gehe, nämlich weniger um die Amtsfrage als um das ekklesiologische Problem der richtigen Weise der Gegenwart des Wortes Gottes in der Welt. Über den theologischen Status der Bischofskonferenzen aus der Sicht der Communio-Ekklesiologie sprach abschließend Achim Buckenmaier von der Integrierten Gemeinde und Inhaber des Lehrstuhls für die „Theologie des Volkes Gottes“ an der Päpstlichen Lateranuniversität. Keinesfalls dürfe die vom Konzil gewollte Einrichtung Bischofskonferenz den Ortsbischof ersetzen, auch könne der Vorsitzende nicht die Rolle eines nationalen Kirchenoberhauptes übernehmen. Ein weiterer angekündigter Referent, der russisch-orthodoxe Igumen Philipp Rabych, ist bei der Anreise über den Moskauer Flughafen nicht hinausgekommen. Auch wenn man sich insgesamt eine intensivere Hinwendung der Referenten zur Kirchenlehre Ratzingers gewünscht hätte, bleibt den Verantwortlichen dafür zu danken, dass sie mit dem Ekklesiologie-Band erstmalig eine Gesamtschau auf diese wegweisende Theologie ermöglicht und zugleich deren Rezeption eingeleitet haben. Dies brachte der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, in seinem kurzen Grußwort am Ende der Veranstaltung auf den Punkt indem er sagte: „Das Institut ist eine großartige Einrichtung.“