Die Grundlage eines Lebensthemas
DT vom 17.09.2009, Nr. 111, S. 6
Bischof Müller überreicht dem Papst den zweiten Band der Gesammelten Schriften
Castel Gandolfo/Regensburg (DT/bpr) In Castel Gandolfo hat der Heilige Vater am Sonntag nach dem Angelus aus den Händen von Bischof Gerhard Ludwig Müller ein entscheidendes Dokument seiner persönlichen Geschichte als Wissenschaftler und Theologe entgegengenommen. Der zweite Band der Gesammelten Schriften von Joseph Ratzinger führt weit zurück ins Jahr 1955, als der junge Joseph Ratzinger an der theologischen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität zu München seine Habilitationsschrift einreichte. Wählte er sich auch mit dem Heiligen Bonaventura und seiner Theologie ein Thema des 13. Jahrhunderts aus, so erkennt der Leser unverzüglich, wie sehr die Arbeit mit seinem Lebensthema, dem Verhältnis von Glauben und Vernunft, verbunden ist. Wie wendet sich Gott an die Menschen und wie können wir dieser Ansprache vernünftig begegnen? Diese Frage bearbeitet der scholastische Kirchenlehrer des Mittelalters ebenso wie Joseph Ratzinger als Theologe, als Kardinal und als Oberhaupt der katholischen Kirche. Der Heilige Vater, so Bischof Müller, habe sich froh darüber gezeigt, dass innerhalb kurzer Zeit bereits der zweite von 16 projektierten Bänden seiner Opera Omnia erschienen sei. Dabei verfolge er den Fortgang dieser Edition mit großem Interesse, da es sich ja um sein eigenes theologisches Werk handele. „Dieses theologische Werk bekommt jetzt mit dem Kontext dieser Ausgabe auch eine systematische Strukturengestalt. Im Laufe der langen Jahrzehnte sind eine Vielzahl von Beiträgen, Aufsätzen, Artikeln entstanden, die oft auf einen bestimmten Anlass bezogen waren. Aber jetzt eben geht es darum, auch die Systematik herauszustellen und die Anordnung sichtbar zu machen. Auch so, wie es der Papst selber in der Vorbereitung der einzelnen Bände vorgibt und wie es sich dann im Gespräch mit ihm heraus kristallisiert“, erklärte der Regensburger Oberhirte als Herausgeber der Gesammelten Schriften.
Im vorliegenden Band zeige sich, welch bedeutende Figur Bonaventura im großen Fluss der 2000-jährigen katholischen Theologie darstelle. Papst Benedikt XVI. habe es in seinen Abhandlungen vermocht, seine Theologie fruchtbar zu machen für den gesamten theologischen Prozess und damit auch seine Bedeutung für die Kirche und die Welt von heute darzustellen, hob Bischof Gerhard Ludwig Müller hervor.
Man sah dem Heiligen Vater die Freude an, als er das Buch mit seinen wissenschaftlichen Wurzeln in den Händen hielt. Der Papst betrachtete den 912 Seiten starken Band, gedruckt auf festem Papier und in ästhetisch-schlichtem Einband, für einige Minuten, und dankte dann herzlich den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Bischof Gerhard Ludwig dabei unterstützen, sein Werk in dieser autorisierten und wissenschaftlich umfassenden Form herauszugeben.
Der Papst fühlte sich sichtlich wohl im Kreis der aktuell führenden Bonaventura-Forscher, die sich zuvor im Geburtsort des Heiligen, in Bagnoregio, mit Bischof Gerhard Ludwig Müller zu einem 2-tägigen Colloquium getroffen hatten, um den aktuellen Stand theologischer Forschung auszutauschen. Die Aktualität Bonaventuras wurzelt in der Auseinandersetzung mit der Säkularisierung, der sich die Kirche heute stellen muss. Die Frage ist, wie des Menschen Vernunft und der Glaube an der dreifaltigen Schöpfergott zusammenwirken und einander bedingen.
Nach Benedikt XVI. überreichte Bischof Müller den zweiten Band der Gesammelten Schriften am Montag auch den Bruder des Papstes, Prälat Georg Ratzinger. „Ich sage Ihnen ein ganz herzliches Vergelts Gott. Ich bin ganz gerührt“, sagte Prälat Ratzinger: „Es ist eine große Freude, Genugtuung und Erfüllung, dass Sie dieses Werk herausgegeben haben.“ Der zweite Band der Gesammelten Schriften besteht im wesentlichen aus der Habilitationsschrift Joseph Ratzingers, die er im Alter von 28 Jahren an der Katholisch-Theologischen Fakultät in München eingereicht hatte. Die Arbeit, die sich mit der Geschichtstheologie bei dem spätmittelalterlichen Franziskaner-Theologen Bonaventura befasst, ist nun zur Gänze veröffentlicht. In einem Vorwort widmet der Heilige Vater den vorliegenden Band seinem Bruder, „in Dankbarkeit für die Weg- und Denkgemeinschaft eines ganzen Lebens“.
Das Wirken des heiligen Bonaventura fällt in eine Zeit des Umbruchs in der abendländischen Theologie, die vor allem auf die Begegnung mit der aristotelischen Philosophie zurückgeht. Die damalige Epoche ist die Geburtszeit der Theologie im modernen Sinne der wissenschaftlichen Beschäftigung, teilte Bischof Gerhard Ludwig bei der Überreichung mit. In seiner Habilitationsschrift habe der junge Joseph Ratzinger „manches Klischee überwunden“, wonach die scholastische Philosophie ungeschichtlich gedacht habe, so der Bischof. Seitdem sei die Forschung auf diesem Gebiet weitergekommen. Allerdings behalte das Fundament, das Joseph Ratzinger damals gelegt hat, weiter seine Gültigkeit. Prälat Ratzinger, der lange Jahrzehnte als Domkapellmeister an der Spitze der Regensburger Domspatzen stand, erinnerte an die Studienzeit der Brüder Joseph und Georg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Freising. Gegenüber den zahlreich versammelten Seminaristen, die an diesem Montag in Regensburg ihr Propädeutisches Jahr begonnen haben, sagte der Prälat, nach 1945 habe eine große Offenheit und Aufnahmebereitschaft unter den Theologiestudenten geherrscht. „Das war für uns eine kostbare Zeit. Wir wussten, das uns die Theologie zu der Aufgabe führt, die wir alle wollten.“ In diesen Jahren sei das menschliche und religiöse Fundament ihres weiteren Priesterseins gelegt worden.