Bonaventura und die Theologie Benedikts
DT vom 19.09.2009, Nr. 112, S. 5 von Claudia Kock
Aus Anlass des Erscheinens des Zweiten Bandes der „Gesammelten Schriften“ Joseph Ratzingers fand ein wissenschaftliches Colloquium in Bagnoregio statt.
Spätsommer 2009: Am 13. September, einem Sonntag, liegt die Päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo in strahlendem Sonnenschein, der milde, tiefblaue Himmel spiegelt sich im Albaner See. Sommerlich bekleidete Menschen strömen in den Hof des Apostolischen Palastes, um dort gemeinsam mit dem Papst das Angelusgebet zu sprechen und den Segen zu empfangen.
Unter ihnen befindet sich auch eine kleine Gruppe von Theologen – Dominikaner, Franziskaner verschiedener Observanzen, ein Zisterzienser, ein Priester der Priesterbruderschaft der Missionare vom heiligen Karl Borromäus, einige Diözesanpriester und einige Laien –, angeführt von Bischof Gerhard Ludwig Müller von Regensburg, der an diesem Tag dem Papst ein ganz besonderes Geschenk überreichen wird: den 2. Band der „Gesammelten Schriften“ Joseph Ratzingers, der soeben im Herder-Verlag erschienen ist (DT vom 17. September).
Diese kleine Gruppe – etwa 20 Personen – erhält Einlass in den Apostolischen Palast, wo sie vom Fenster aus das Angelusgebet mitbeten kann. Vor dem Gebet hält der Papst wie immer eine kurze Ansprache; er geht darin auch auf die liturgischen Gedenktage der beiden kommenden Tage ein: das Fest der Kreuzerhöhung und das Gedächtnis der Schmerzen Mariens: Maria verlor unter dem Kreuz ihren Glauben an Gott nicht, sondern blieb stets bei ihrem Sohn. So sah sie schließlich „die leuchtende Morgenröte seiner Auferstehung“.
Spätsommer 1955: Der junge Theologe Joseph Ratzinger, Dozent an der Universität zu Freising, beendet die Arbeit an seiner Habilitationsschrift über das Offenbarungsverständnis und die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura. Habilitation und Lehrstuhl scheinen gesichert; er richtet eine Wohnung ein, holt seine Eltern zu sich nach Freising, wo diese ihren Lebensabend verbringen sollen, und widmet sich der akademischen Arbeit. Zu Ostern 1956 – gerade ist er Karl Rahner zum ersten Mal begegnet – erreicht ihn dann die Hiobsbotschaft: Michael Schmaus, der Koreferent der Habilitationsschrift, teilt ihm mit, dass er die Arbeit ablehnen müsse, da sie „nicht den dabei geltenden wissenschaftlichen Maßstäben genüge“. In seiner Autobiografie beschreibt er später als Kardinal diesen dramatischen Augenblick: „Ich war wie vom Donner getroffen. Eine Welt drohte für mich zusammenzubrechen. Was sollte aus meinen Eltern werden, die guten Glaubens zu mir nach Freising gekommen waren, wenn ich nun als Gescheiterter von der Hochschule gehen musste? Und meine ganze eigene Zukunftsplanung, die sich wieder ganz auf das theologische Lehramt gerichtet hatte, war dann gescheitert.“ Er hatte Angst davor, plötzlich ein Mensch zu sein, den man „in Zukunft als Gescheiterten hätte brandmarken können“. Er konnte sich schließlich doch habilitieren, musste aber den gesamten ersten Teil der Arbeit – über Bonaventuras Offenbarungsverständnis – herausnehmen, denn Schmaus sah darin mit den Worten Kardinal Ratzingers „keineswegs eine getreue Wiedergabe von Bonaventuras Denken (wovon ich hingegen auch heute noch überzeugt bin), sondern einen gefährlichen Modernismus, der auf die Subjektivierung des Offenbarungsbegriffes hinauslaufen müsse“. Ratzinger hielt all dies auch später „nicht für wissenschaftlich gerechtfertigt“, verstand aber, dass diese Prüfung „einer höheren Logik als der bloß wissenschaftlichen folgte“. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig der 2. Band der „Gesammelten Schriften“, der – neben kleineren Studien zu Bonaventura – die gesamte Habilitationsschrift in ihrer ursprünglichen Form enthält, für Papst Benedikt XVI. ist. Er wurde im Auftrag des Heiligen Vaters von Bischof Müller herausgegeben, in Verbindung mit dem Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.“ und unter der wissenschaftlichen Leitung von Marianne Schlosser, Professorin für Theologie der Spiritualität an der Universität Wien.
Anlässlich des Erscheinens dieses Bandes lud das „Institut Papst Benedikt XVI.“ namhafte Theologen zu einem Colloquium nach Bagnoregio in der mittelitalienischen Provinz Viterbo ein, wo Bonaventura um 1220 geboren wurde. Die Teilnehmer am Colloquium wurden zunächst vom Bischof von Viterbo, Lorenzo Chiarinelli, begrüßt, der das Leben des großen „Doctor Seraphicus“ in Erinnerung rief: 1240 trat er in den Franziskanerorden ein, wurde 1257 Generalminister des Ordens und vermittelte im Armutsstreit, wobei er den Orden auf eine gemäßigte Linie festlegte. Dies brachte ihm den Ruf als „zweiter Ordensgründer“ (nach dem heiligen Franziskus) ein. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er zum Kardinalbischof von Albano ernannt. 1482 wurde er heiliggesprochen und 1588 zum Kirchenlehrer ernannt. Nur wenige Tage vor dem Colloquium hatte Papst Benedikt selbst Bagnoregio besucht, und Bischof Chiarinelli wies in diesem Zusammenhang auf eine interessante Analogie hin: Während Bonaventura mit 26 Jahren sein Theologiestudium in Paris aufnahm, begann Joseph Ratzinger mit 26 Jahren seine Bonaventura-Studien.
Marianne Schlosser eröffnete dann die Arbeiten des Colloquiums mit einem Vortrag über Inhalt und Methode von Ratzingers Bonaventura-Studien. Sie hob unter anderem hervor, dass Bonaventura ein Klassiker der „Analogia fidei“ sei, bei dem Christozentrik und Schöpfungslehre im Mittelpunkt stünden. Dadurch wurde er für den jungen Joseph Ratzinger zu einem Gesprächspartner, der auch für die reformatorische Frage wichtige Anhaltspunkte lieferte, was vor allem in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil von großer Bedeutung war.
Anschließend sprach der Leiter des „Instituts Benedikt XVI.“ Rudolf Voderholzer. Er legte anschaulich dar, dass Ratzinger mit dem Aufweis des konstitutiven Verknüpftseins von Offenbarung und Kirche eine Begründung der kirchlichen Lehrautorität im christlichen Ursprungsgeschehen gelingt, die wesentlich tiefer greift als eine bloß theologisch-positivistische Bedeutung. Um die Verbindung zwischen Offenbarung und Kirche ging es auch in dem Vortrag des Fundamentaltheologen P. Maximilian Heim OCist. von der Hochschule Heiligenkreuz, der darlegte, dass Bonaventura weit davon entfernt ist, die sakramentalhierarchische Struktur der Kirche in Frage zu stellen. Träger der kirchlichen Gewalt sind jedoch die Apostel. Die Kirche hat nur Autorität, weil, wie Joseph Ratzinger in seiner Habilitationsschrift betont, „hinter ihrer auctoritas die auctoritas apostolorum steht“.
Der nächste Referent war P. Richard Schenk OP (Universität Berkeley, USA), der über die Rezeption der theologischen Programmatik von Gottlieb Söhngen – Ratzingers Doktorvater –, insbesondere in Bezug auf Karl Barth, sprach. Sein Ordensbruder P. Charles Morerod OP dagegen setzte sich mit dem Begriff „Tatcharakter der Wahrheit“ in der Habilitationsschrift auseinander: Das Offenbarungsgeschehen ist niemals nur Wort, sondern vor allem auch Tat und Begegnung, wie Papst Benedikt XVI. später auch am Anfang seiner ersten Enzyklika hervorhob. Peter Hofmann, Dogmatiker und Fundamentaltheologe an der Universität Koblenz, machte in seinem Vortrag deutlich, dass der erste Teil der Habilitationsschrift ein Licht auf Ratzingers ekklesiologische Arbeiten im Umkreis des Konzils wirft, insbesondere auf seinen Kommentar zu Gaudium et spes und seine Kritik an Karl Rahners transzendentaltheologischer Konzeption des Christentums. Nach ihm stellte Franz Xaver Heibl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Institut Papst Benedikt XVI.“, die Habilitationen Romano Guardinis und Joseph Ratzingers über den heiligen Bonaventura zueinander in Bezug. Guardini habilitierte sich nicht nur über Bonaventura, sondern hatte auch über ihn promoviert; seine Studien werden des öfteren von Ratzinger zitiert.
Um die Auseinandersetzung mit Joachim von Fiore, dem Zisterzienserabt, dessen Theologie einen Teil des Franziskanerordens – die „Spiritualen“, die im Armutsstreit eine strenge Linie vertraten – stark beeinflusste, ging es in dem Vortrag von P. Leonhard Lehmann OFMCap (Antonianum, Rom); dann sprach der Augsburger Mathematiker und Theologe Florian Kolbinger über die Verbindung von Zeit und Heilsgeschichte bei Bonaventura. Die Arbeiten des Colloquiums wurden abgeschlossen durch den Vortrag „Bonaventura, den franziskanischen Joachitismus und Joachim von Fiore in den Bonaventura-Studien Joseph Ratzingers und der nachfolgenden Forschung“ von P. Paul Zahner OFM (Näfels – Graz). Er kam zu dem Schluss, dass zwar einige Elemente der Forschungen Ratzingers vor allem im Bereich um den franziskanischen Joachitismus im Licht neuer Forschungen überarbeitet werden müssten, seine Bonaventura-Studien aber auch heute nach über 50 Jahren noch als grundlegendes wissenschaftliches Werk betrachtet werden könne.
Nach dem Angelusgebet am 13. September begrüßte Papst Benedikt XVI. Marianne Schlosser und die anderen Teilnehmer am Colloquium. Bischof Müller überreichte ihm den 2. Band der „Gesammelten Schriften“ – die „Regensburger Edition“ der Habilitationsschrift. So hielt der Papst nach einem halben Jahrhundert die Frucht seiner Arbeit in Händen, die er als junger Theologe durchgeführt und an deren Gültigkeit, das zeigt seine Autobiografie, er niemals gezweifelt hat. Das Colloquium hat aufgezeigt, dass seine Habilitationsschrift auch und vielleicht gerade im Licht der heutigen Theologie großen Wert besitzt. „Nichts von dem, was wir tun, geht verloren“, sagte der Heilige Vater in der Ansprache vor dem Angelusgebet im Hinblick auf das Fest der Kreuzerhöhung.