„Atemberaubend luzide Theologie“
DT vom 04.05.2017, Nr. 53, S. 6 von Michael Karger
Eine Tagung der Katholischen Akademie in Bayern zum 90. Geburtstag würdigt den emeritierten Papst Benedikt XVI.
Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolges von innen her leer geworden, gleichsam auf Transplantationen angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen scheint. Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft, Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man.“
Genau ein Jahr vor seiner Wahl zum Papst sagte dies Kardinal Ratzinger in einer Rede über die Identität Europas vor dem italienischen Senat in Rom. Als die sich anbietenden Transplantate nannte der Kurienkardinal den Islam, der sich als Grundlage für das Leben der Völker verstehe, und den Buddhismus. Damals legte sich Ratzinger ein historischer Bezugspunkt nahe: „Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskräfte mehr hatte.“ Heute hat sich die Situation im Vergleich zu 2004 durch die Masseneinwanderung von Muslimen in Europa in einem Maße zugespitzt, dass der Vergleich mit dem Untergang des Römischen Reiches zuletzt bei zahlreichen ernstzunehmenden Denkern zu lesen war. In dieser Situation hat die Katholische Akademie in Bayern zusammen mit dem Institut Papst Benedikt XVI. und der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung am Freitag und Samstag in München eine Tagung zum Thema „Europa – christlich?“ anlässlich des 90. Geburtstags von Papst Benedikt XVI. veranstaltet. Nach dem staatsrechtlichen, politischen und literarischen Blickwinkel auf die Frage kamen ein katholischer und ein reformierter Theologe und ein orthodoxer Bischof zu Wort.
Den katholischen Part übernahm der Neutestamentler Thomas Söding. Er erinnerte an den heilsgeschichtlich ungeheuer bedeutsamen Weg des Christusglaubens vom Orient nach Europa, auf den sich Papst Benedikt in seiner Rede an der Universität Regensburg 2006 bezogen hatte: Auf dem Gebiet des homerischen Troja sah Paulus in einer Traumvision einen Mazedonier, der ihm zurief: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ Daraufhin, so die Apostelgeschichte, begann Paulus seine europäische Missionstätigkeit, „denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hat, dort das Evangelium zu verkünden“.
Papst Benedikt hatte diese Vision als „Verdichtung des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen“ gedeutet. Universalisierung des Glaubens heißt, die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen. Europa bedeutet so für Papst Benedikt die fruchtbare und notwendige Begegnung von Theologie und Philosophie. Diese Mission, so Söding, habe Europa geprägt: Die Verkündigung des menschgewordenen Gottessohnes und die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. Allerdings sei dann die weitere Geschichte des Christentums von „hoher Ambivalenz“ gekennzeichnet, neben der Grundlegung des Sozial- und Rechtsstaats gelte es, auch auf die Religionskriege und die Kirchenspaltung hinzuweisen. Europa brauche aber „die unverkürzte Verkündigung des Evangeliums von Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“.
Abschließend sprach sich Söding für eine „klare Stimme der vereinigten Christen auf dem europäischen Kontinent“ aus. Ob allerdings mit noch einem Gremium mehr der mangelnden Überzeugungskraft der Christen abzuhelfen ist, muss bezweifelt werden, zumal Söding mit Recht feststellte: „Faule Kompromisse stiften neuen Unfrieden.“ Zentrale These des reformierten Schweizer Theologen Gottfried Locher, geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, war, dass die „Verschiedenheit der kulturell-politische Normalfall“ in Europa sei und die Einheit eine von der „kirchlichen Universalität abgeleitete Wunschvorstellung.“ Christliches Europa bedeute dann als Frage an die Kirchen, nach der erkennbaren Einheit hinter den Konfessionen zu suchen. Allerdings sei die wahre Einheit bereits mit dem Christusereignis Wirklichkeit geworden: „Staaten können Einheit anstreben und partikular herstellen, Kirchen können ihre konstitutive Einheit bloß verfehlen.“
Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen „sichtbarer und geglaubter Kirche“ frage sich der Protestantismus, wie „Einheit in der Vielfalt“ möglich sei, und suche nach der Bestimmung dessen, was wesensnotwenig für die Kirche sei und wo legitime Unterschiede bestehenbleiben können. Da habe man die Frage des kirchlichen Amtes nicht verabschiedet, aber ihre Bedeutung für die Kirchengemeinschaft „angemessen relativiert“. Es sei aber zutage getreten, dass die in der Leuenberger Konkordie zusammengeschlossenen Gemeinschaften „offensichtlich uneinig darüber (sind), worin ihre Einheit besteht“.
Entschieden lehnt Locher den von Harding Meyer aufgebrachten „Slogan“ von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ ab. Es bleibe unklar, worin sich eine versöhnte von einer unversöhnten Verschiedenheit unterscheide. Verschiedenheit tauge wenig als ökumenischer „Zentralbegriff“. Demgegenüber sei das paulinische Bild von der „Gemeinde“ als „Leib Christi“ mit Christus als „Haupt“ „keine soziologische, sondern eine ontologische Kategorie“.
Hier hätte eigentlich ein Bezug zur eucharistischen Lehre von der Kirche, wie sie Papst Benedikt entfaltet hat, nahegelegen. Auch wenn dies unterblieb, so ist doch die abschließende Würdigung des emeritierten Papstes aus dem Munde eines reformierten Theologen mehr als bemerkenswert. Locher nannte Papst Benedikt „einen Mann, der wie nur ganz wenige in der Kirchengeschichte atemberaubend luzide Theologie mit liturgisch verorteter sakramentaler Existenz und viel zu wenig beachteter menschenfreundlicher Seelsorge verbindet“. Alle Bemühungen um die Ökumene sah der serbisch-orthodoxe Bischof Andrej Cilerdzic als Modell für die menschliche Gesellschaft weltweit an.
Die orthodoxen Kirchen in Osteuropa suchten nach der langen Unterdrückung durch den Kommunismus heute nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Auch wenn gelegentlich in der Orthodoxie ökumenische Kontakte als „unwillkommen und störend zurückgewiesen“ würden, so sei es doch unbestritten, dass die Ökumene zur Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Konflikte beitragen könne. In der anschließenden Diskussion nannte der reformierte Theologe drei Felder, auf denen er sich einen ökumenischen Fortschritt erwarte: Dies geschehe an erster Stelle auf der Ebene persönlicher Freundschaften, als Bespiel nannte Locher seine eigene Freundschaft mit Kardinal Koch, dem Präsidenten des Rates zur Förderung der Einheit der Christen.
An zweiter Stelle nannte er die katholische Liturgie, in der Nichtkatholiken erfahren können, „wo die Kirche beginnt“, und an dritter Stelle stehe die gemeinsame Feier des Kirchenjahres über die Konfessionsgrenzen hinweg. Söding bedauerte ausdrücklich, dass es gerade in ethischen Fragen keine gemeinsame Position von katholischer Kirche und evangelischer Seite gebe. Gerade die christliche Lebensgestaltung hatte Kardinal Ratzinger in seinem Vortrag über die Identität Europas vor dem Römischen Senat 2004 nicht ausgespart. Er nannte die Unbedingtheit der Menschenrechte und der Menschenwürde, die den ungeborenen und den sterbenden Menschen einschließe. Weiterhin nannte er Ehe und Familie als die „grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisse von Mann und Frau“, die durch die „Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit“ gefährdet werde. Zum anderen die „Auflösung des Menschenbildes“ durch die Forderung homosexueller Lebensgemeinschaften, immer mehr der Ehe gleichgestellt zu werden, und zuletzt die Ehrfurcht vor dem, „was dem anderen heilig ist, und die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, vor Gott, die sehr wohl auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist“.
Leider hat kein Vortrag auf der Tagung zum 90. Geburtstag von Papst Benedikt die zahlreichen und visionären Beiträge des Jubilars zur Gegenwart und Zukunft Europas zum Gegenstand gehabt. Von der großen Philosophin Hannah Arendt stammt der Satz: „Die guten Sachen in der Geschichte sind gewöhnlich von sehr kurzer Dauer, haben aber dann einen entscheidenden Einfluss auf das, was sehr viel später in langen Zeiten, die gar nicht sehr schön sind, geschieht.“ Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um bereits heute zu erkennen, dass wir mit Papst Benedikt den letzten großen Theologen des 20. Jahrhunderts vor uns haben. Darum ist allen zu danken, die sich um die Rezeption seines Denkens bemühen, wie es etwa durch die Edition seiner Gesammelten Schriften geschieht, denn diese Schriften werden sicher „einen entscheidenden Einfluss auf das haben, was sehr viel später in langen Zeiten, die gar nicht sehr schön sind, geschieht“.