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Mariologie als konkrete Gnadenlehre

Quellangabe: Einführung in das Christentum, München 1968, 263.


Der rechtverstandene Sinn des Gotteszeichens der Jungfrauengeburt zeigt […] an, welches der theologische Ort einer Marienfrömmigkeit ist, die sich vom Glauben des Neuen Testaments herleiten lässt. Sie kann nicht auf einer Mariologie beruhen, die eine Art von verkleinerter Zweitausgabe der Christologie darstellt – zu einer solchen Verdoppelung gibt es weder Recht noch Grund. Wenn man einen theologischen Traktat angeben will, dem Mariologie als dessen Konkretisierung zugehört, wäre es wohl am ehesten die Gnadenlehre, die freilich mit der Ekklesiologie und mit der Anthropologie ein Ganzes bildet. Als die wahre „Tochter Sion“ ist Maria Bild der Kirche, Bild des gläubigen Menschen, der nicht anders als durch das Geschenk der Liebe – durch Gnade – ins Heil und zu sich selbst kommen kann. Jenes Wort, mit dem Bernanos das Tagebuch eines Landpfarrers schließen lässt – „Alles ist Gnade“ –, jenes Wort, in dem dort ein Leben, das nur Schwachheit und Vergeblichkeit zu sein schien, sich als voller Reichtum und Erfüllung erkennen darf: dieses Wort ist in Maria, der „Gnadenvollen“ (Lk 1,28), wahrhaft Ereignis geworden. Sie ist nicht die Bestreitung oder Gefährdung der Ausschließlichkeit des Christusheils, sondern der Verweis darauf. Darstellung der Menschheit, die als ganze Erwartung ist und die dieses Bild umso nötiger braucht, je mehr sie in Gefahr ist, das Warten abzulegen und sich dem Machen anzuvertrauen, das – so unerlässlich es ist – die Leere niemals ausfüllen kann, die den Menschen bedroht, wenn er jene absolute Liebe nicht findet, die ihm Sinn, Heil, das wahrhaft Lebensnotwendige gibt.





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