Nicht die Sache Jesu – Jesus selber lebt
Die Predigt wurde von Erzbischof Joseph Kardinal Ratzinger am Ostersonntag, 15. April 1979, im Münchner Liebfrauendom gehalten. Zentraler Gedanke ist die Auferstehung Jesu als Eintritt des neuen Lebens in diese Welt und für uns Menschen.
(Quelle: JRGS 14, 459–464)
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!
„Auferstanden am dritten Tag“, so bekennen wir mit der Kirche in Worten, die bis in die Jerusalemer Urgemeinde, ja bis in die Predigt Jesu zurückreichen, und ihre Wurzeln bis tief ins Alte Testament hinuntertreiben. Man kann sich fragen: Was bedeutet es eigentlich, dass diese Datumsangabe mit in unser Glaubensbekenntnis aufgenommen ist? Zunächst wollte die Christenheit damit ganz sicher den ersten Tag der Woche herausstellen als den neuen Tag, an dem der Sieg des Lebens geschehen ist, den Sonntag ins Gedächtnis der Welt einprägen als den Tag, mit dem eine neue Zeitrechnung beginnt und um den sich fortan alle Zeit ordnet. Der Auferstehungstag ist eingetragen ins Glaubensbekenntnis. Er gehört zur Mitte kirchlichen Glaubens und Lebens. Er ist nicht eine beliebige Vereinbarung, sondern der Tag, an dem das neue Leben hereingetreten ist in diese Welt.
Darüber hinaus schwingen in dieser Datumsbestimmung „dritter Tag“ alttestamentliche Gedanken mit, die zugleich auslegen helfen, was denn Auferstehung in unser Leben und in die Zeiten hin bedeutet. In den Schilderungen von der Bundesschließung am Sinai ist der dritte Tag jeweils der Tag der Theophanie, das heißt der Tag des Erscheinens und des Sprechens Gottes. Und so ist mit der Zeitbestimmung „dritter Tag“ die Auferstehung Jesu als das endgültige Bundesgeschehen gezeichnet, als das endgültige, wirkliche Hereintreten Gottes in die Geschichte, der hier inmitten unserer Weltzeit sich zu erkennen gibt und sich eingräbt in sie. Auferstehung bedeutet, dass Gott Macht über die Geschichte behalten, dass er sie nicht an die Naturgesetze abgetreten hat. Sie bedeutet, dass er nicht ohnmächtig geworden ist und dass das universale Gesetz des Todes dennoch nicht die letzte Macht der Welt ist, sondern der Letzte ist er, der auch der Erste ist.
Weiterhin wirkt im Hintergrund wohl der Gedanke mit, dass man im Orient die Verwesung nach dem dritten Tag einsetzend dachte, als das Endgültig- und Unwiderruflich-Werden des Todes. So wird von Lazarus ausdrücklich erzählt, dass er schon den vierten Tag im Grabe liegt, schon in die Verwesung übergegangen ist (vgl. Lk 11, 17). Dabei hörte man mit die griechische Fassung des Psalms 16: „Du lässt deinen Gesalbten die Verwesung nicht schauen“ (Ps 16, 10). Weil die Christenheit glaubend wusste, dass diese Worte der Hoffnung, die noch unerfüllt im Herzen Israels standen, in Jesus erfüllt waren, wusste sie, dass dieser Vers der Hoffnung von ihm gilt (vgl. Apg 2, 25–33). Die Auferstehung am dritten Tag war die Antwort auf diese Verheißung, war Bekenntnis dazu, dass Jesus nicht in dem Grabe und in den Fängen des Todes geblieben, sondern dass in ihm die Endgültigkeit des Todes überwunden ist durch die Endgültigkeit des Lebens.
So lässt uns diese scheinbar eher beiläufige Datumsangabe „am dritten Tag“ neu verstehen, was Auferstehung uns zu sagen hat als Botschaft auch an diese unsere Zeit. Sie bedeutet zunächst demnach den Vorrang der Person vor der Sache. In den sechziger Jahren wurde zur Erklärung der Auferstehung Jesu die Formel erfunden: Die Sache Jesu geht weiter. Dies sei es, was die Jünger begriffen hätten „am dritten Tag“. Aber wenn es nur dies wäre, das Weitergehen der Sache Jesu, dann wäre von ihm nichts anderes zu sagen, als was man auch über Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin, über Konrad Adenauer und Charles de Gaulle feststellen kann. Dann wäre in ihm nichts wirklich Neues geschehen, sondern es würde das melancholische Wort der resignierenden alttestamentlichen Weisheit gelten: Unter der Sonne ist nichts Neues. Bei allem, was neu scheint, bleibt zuletzt nur der ewige Kreislauf des Stirb-und-werde-und-stirb. Das würde also auch bedeuten, dass alles, was Menschen gedacht und gelebt und geliebt haben, in das gleichgültige Schweigen des Todes versinkt, dass am Ende in dem unendlichen Sternenmeer die kleine Zivilisation der Erde schweigend erlischt und vom Sand des Nichts bedeckt wird, wie Claude Lévi-Strauss es formuliert hat.
„Die Sache Jesu geht weiter.“ Das sagt zu wenig, ja, das sagt auch etwas Falsches aus. Denn das würde ja bedeuten, dass nur die Sache jeweils das Bleibende ist in der Welt. Die Menschen kommen und gehen. Sie wären nur die wechselnden Darsteller auf der Bühne der Geschichte für die Sache, die allein das Beständige wäre. Die Personen stünden so jeweils nur im Dienst der Sache. Die Person wäre nur Mittel und die Sache wäre der Zweck. Wenn das stimmte, dann könnte man auch die Person für die Sache opfern. All die grausamen und menschenverächterischen Ideologien, deren furchtbare Ernte wir im 20. Jahrhundert und seit 1789 erleben, beruhen letzten Endes auf dieser Missachtung der Person.
In einer Predigt habe ich einmal den Satz gelesen: „Christus ist für die edelste Sache der Menschheit gestorben.“ Nein, er ist nicht für eine Sache gestorben. Er ist für Gott und für die Menschen gestorben, und darin liegen der Sieg Gottes und der Sieg für den Menschen. Die Sachen bleiben nicht edel, wenn für sie die Menschen getötet werden. Der Auferstandene ist der Sieg der Person, die mehr ist als die Sachen, denn Gott ist Person und hat den Menschen mit ewiger Liebe gerufen, damit er ewig sei und damit seine Liebe ewig sei.
Auferstehung Jesu bedeutet ferner die Überordnung des Geistes über die Materie. Wir wagen dies heute kaum noch zu sagen, denn wir sind beschämt über den Missbrauch, den der Geist mit der Materie, mit der Schöpfung betreibt. Aber solcher Missbrauch beruht eben darauf, dass die Sache der Person übergeordnet wird. So aber wird der Geist „sachlich“ und grausam: Wenn er sich der Materie unterordnet, gerade dann vergewaltigt er sie, weil die innere Ordnung der Wirklichkeit zerstört ist. Beispiele dafür, dass heute der Geist in den Dienst der Materie tritt und damit beides stört und zerstört, gibt es genug. Wir brauchen nur an das Geschäft der Werbung zu denken, wo ein Unmaß von geistigem Kalkül, von Investition an Verstand und Ideen verbraucht wird, um den Menschen in die bloße Materialität herabzuzerren. Oder denken wir an die technischen Investitionen, die weithin ebenfalls Geist in seinen vorgeschobensten Formen aufwenden, um den Menschen ganz in die Materie hineinzuzwängen. Wir erleben dasselbe in der ganzen Struktur unserer auf Konsum ausgerichteten Welt: Die Waren, die wir produzieren, werden Herren über den Menschen. Der Mensch wird zum Diener der Maschine. Die Materie herrscht über ihn und vergewaltigt ihn. Auf diese Weise ist unser 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der großen moralischen und materiellen Unglücke für den Menschen geworden.
Deswegen ist es so wichtig, die unverkürzte Botschaft von der Auferstehung Jesu zu bekennen. Denn wenn man den Leib, die Materie, daraus herauslässt, bedeutet dies, dass wir im stillen Geist und Materie für ewig getrennt halten, dass wir die Materie für unerlösbar ansehen, sie aus dem Raum und der Macht Gottes ausgrenzen. Die Überlegenheit des Geistes und Gottes über die Materie zu bekennen, wie es im Glauben an die Auferstehung liegt, das heißt gerade nicht, die Materie und den Leib zu degradieren, sondern das sichert ihre endgültige Würde, ihre Erlösungsfähigkeit, ihr Zugehören zu der einen ganzen Schöpfung Gottes.
So ist Glaube an die Auferstehung die radikalste und dramatischste Absage an jede Form von Materialismus. Wir sollten uns aber, ehe wir auf den marxistischen Materialismus hindeuten, darüber klar werden, dass wir ihm und seinen Idealen, die er immerhin hat, seine Chance nur dadurch geben, dass wir in einem ideenlosen Materialismus des Konsums und des Genusses leben, die Materie anbeten und sie ebendarin zerstören und vergewaltigen. Der Auferstandene sollte uns neu herausholen aus solchen Materialismen zur Freiheit des Geistes, die auch die Materie würdigt und groß sein lässt.
Endlich ist die Auferstehung Jesu Christi das Bekenntnis zum Vorrang der Liebe und des Lebens gegenüber den Strategien des Klassenkampfes und einer Bewusstseinsbildung, die auf die Weckung des Neides abzielt. Das aber ist eine Strategie des Todes. Jesus Christus ist jedoch nicht gegen jemand gestorben, sondern für alle. Sein Blut fordert nicht Blut, sondern Versöhnung und Liebe, das Ende der Feindschaft und des Hasses. Seine Auferstehung ist die persongewordene Wahrheit des Satzes: Die Liebe ist stärker als der Tod.
Deswegen ist es auch im Letzten unerheblich, wem eigentlich historisch die Schuld am Tode Jesu zufällt. Die Christenheit hat immer gewusst, dass dies keine Frage ist, weil das Blut Jesu Christi, wie der Hebräerbrief sagt (Hebr 12, 24), anders ruft als das Blut Abels, nämlich: Vergebung, Versöhnung und Liebe.
Der Heilige Vater [Johannes Paul II.] hat von da aus mit großer Eindringlichkeit in seiner Enzyklika über den Erlöser des Menschen gesagt: Die Kirche hat keine anderen Waffen als die des Wortes und der Liebe. Deswegen kann sie nicht aufhören zu rufen: Tötet nicht![1] Dies ist der Anruf, den Ostern unter uns hineinstellt. Er sagt zugleich: Werdet nicht zu Strategen der Gewalt, sondern zu Dienern der Liebe im Glauben an den Auferstandenen, der uns mitten in der Ohnmacht des Guten die Gewissheit ist, dass Liebe die wahre und die endgültige Kraft der Welt darstellt.
In dem Evangelium der Osternacht wird uns gesagt, dass die Frauen nach der Begegnung mit den Engeln vor Furcht und Freude zugleich anfingen zu laufen, um die Botschaft weiterzugeben. Christentum ist nicht eine Sache der Langeweile und des Zweitrangigen. Wer von dieser Botschaft getroffen ist, der muss laufen, der wird bewegt von ihr, weil es wichtig ist, dass sie weiterdringt, ehe es zu spät ist. Die Apostel selbst haben gleichsam den Wettlauf durch die Welt angetreten, um noch in ihrer Generation bis an die Enden der bekannten Erde die Botschaft vom Sieg des Lebens, von der Auferstehung des Herrn zu tragen. Die Jünger Jesu haben am Ölberg geschlafen. Aber wir schlafen inmitten des Ostertages und schauen vorbei an dem, was das Eigentliche ist. In dieser Stunde sollten wir unser Herz treffen lassen von der Größe der Botschaft, damit auch wir aufbrechen, sein Licht weiterzutragen, ehe es zu spät ist, ehe der Tod seine grausame Ernte hält; damit wir getroffen von der Freude dieses Tages selbst Evangelisten, Boten der Freude Jesu Christi werden.
[1] Vgl. Johannes Paul II., Redemptor hominis Nr. 16, 37.