„Herr, lass´ ihn ruhen in Frieden! Zum Tode von Domkapellmeister a. D. Georg Ratzinger
Am 1. Juli 2020 verstarb der ehemalige Domkapellmeister Apostolischer Notar Dr. Georg Ratzinger. Seit der Gründung im Jahre 2008 begleitete er die Arbeit und die Initiativen des Instituts mit großer Aufmerksamkeit und Interesse. Erst wenige Tage zuvor konnte der emeritierte Papst Benedikt XVI. von seinem Bruder Abschied nehmen. Dieser Akt wahrer Menschlichkeit zeigte noch einmal die tiefe Verbundenheit der beiden Brüder. Zum Gedenken an Georg Ratzinger dokumentieren wir die Predigt von Joseph Kardinal Ratzinger, die er anlässlich des 80. Geburtstages in Regensburg am 15. Januar 2004 gehalten hat. Unser Gebet gilt dem Verstorbenen und in dieser schweren Stunde seinem Bruder Benedikt XVI.
Lesung: Kol 3, 12–17
Evangelium: Joh 15, 9–17
Liebe Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst!
Liebe Schwestern und Brüder!
Lieber Georg!
„Seid dankbar!“, hat der heilige Paulus soeben in der Lesung zu uns gesagt. Und am Schluss dieses Abschnitts fasst er das Ganze noch einmal zusammen in der Mahnung: Was immer ihr redet oder tut, tut es dankend im Geiste Jesu Christi (V. 17).
Achtzig durchschrittene Lebensjahre laden zur Rückschau ein. Da stand am Anfang eine Zeit voller Umwälzungen, Nöte, voller Aufstiege und Abstiege. Die Inflation hatte zu Beginn der zwanziger Jahre fast das ganze Volk in die Armut getrieben; die Jahre langsamen Aufstiegs waren vom Parteienstreit überschattet, der schließlich in der Nazidiktatur endete. Die Geißel des 2. Weltkriegs hast Du als Soldat am eigenen Leib erfahren. In den Jahren des Aufbruchs nach dem Krieg hast Du Theologie und Kirchenmusik studiert und so Deine Lebensaufgabe gefunden: vor allem durch die Kirchenmusik priesterlich zu dienen. Aber in dieser Stunde bewegt Dich gewiss mehr noch als die äußere Deine innere Biographie. In jedem Leben gibt es neben dem Schönen und Hellen auch Schweres, gibt es sozusagen Nebelstrecken, in denen das Ziel sich verbirgt; Steilwände, die kaum zu bewältigen sind. Und auch Dir, lieber Georg, hat der Herr mitunter Schweres zugemutet; zuletzt die Sehbehinderung, die Dir ein gut Stück Leben und Welt wegnimmt. Und doch, wenn man vom Hochgrat der achtzig Jahre herunterschaut und das Ganze sieht, dann sieht man, dass auch das Mühsame gut war, dass Führung da gewesen ist, eine gute Hand, die Dich geleitet hat.
Und dass auch da, wo Mühsal war, Gottes Güte waltete, die Dir half und
die Dir den rechten Weg schenkte.
Bei Deinem siebzigsten Geburtstag hast Du gesagt, wie Dir in der Rückschau sichtbar werde, dass immer Gottes gute Fügung da war und Dich geleitete. So ist am Schluss Grund zu danken. Gott hat es gut mit Dir gemeint, Wir dürfen ihm vertrauen, und auch in der letzten Phase des Dunkels, die über den Menschen vielleicht verhängt sein kann, bleibt die Gewissheit, dass seine Güte waltet und dass wir in die große ewige Güte hineingehen.
„Seid dankbar!“ Diesen Satz können wir aber auch anders übersetzen: Seid eucharistisch! Der Herr hat am Abend vor seinem Leiden das große Dank und Segensgebet seines Volkes gesprochen, mit dem es in der Paschanacht auf das erste Pascha in Ägypten zurückblickte, dankend für die Führung aus Ägypten heraus und immer neu durch vielerlei Wirrnisse hindurch. Gerade auch in den dunklen Stunden seiner Geschichte hat Israel in dankender Rückschau gewusst: Gott ist da, und er verlässt uns nicht. Seine Güte endet nie. Im Danken erstand Israel Hoffnung und Licht; so konnte es weitergehen. Jesus hat dieses Dankgebet aufgenommen und ihm eine neue Dimension, eine neue Tiefe gegeben. In diesem Dankgebet hat er sein Kreuzesleiden, seinen Tod in die Hände des Vaters hineingelegt und das Kreuz in Liebe umgewandelt, die Gewalt in Güte. Er hat nicht nur Brot und Wein in seinen Leib und sein Blut, die Gabe seiner selbst, verwandelt. Er hat damit die Verwandlung der Welt begonnen, denn sie kann nur von innen her verwandelt werden, wo das Licht Gottes die Nacht der Gewalt durchbricht und Liebe stärker ist als der Tod, als alle Bosheit der Menschen. Er hat uns so die Eucharistie geschenkt, in der wir mit seinem Dank vereint werden, in der immerfort die Verwandlung von Brot und Wein und auch Verwandlung der Welt neu geschieht.
Seid eucharistisch! Dieses Wort, lieber Georg, hat für Dich in Deinem Leben eine besondere Dimension dadurch gewonnen, dass Du die Berufung zum Priestertum empfangen hast, in dessen Mitte die Eucharistie steht. So durftest Du in einem ganz tiefen Sinn eucharistisch sein, Tag für Tag in der Feier der heiligen Eucharistie Jesu Dank und Jesu Segensworte nachsprechen und mitsprechen. Ihm darfst Du Mund und Stimme sein und so in den Dienst der Verwandlung eintreten, in dem er immerfort sich schenkt, sich uns in die Hände und ins Herz gibt, um so uns selbst und die Welt zu erneuern.
Der Apostel Paulus entfaltet in unserer Lesung seine Aufforderung „Seid eucharistisch!“ weiter. Er wendet diesen Satz zunächst auf den Wortgottesdienst an und sagt: „Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Nährt und belehrt einander mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Gesängen. Singt in eurem Herzen für Gott in seiner Gnade“ (Kol 3, 16 f.). Das Singen gehört von Anbeginn zur Eucharistie, gehört von Anbeginn zum christlichen Gottesdienst. Es ist nicht eine neue äußere Zutat, um die Liturgie etwas attraktiver zu gestalten. Paulus beschreibt das Wesen des christlichen Gottesdienstes hier gerade dadurch, dass er vom Singen der Psalmen und vom Singen der Herzen spricht. Dir, lieber Georg, ist mit der priesterlichen Berufung auch die Berufung zur Musik geschenkt worden, die Gnade, ein Meister der Musik zu sein. Beides widerspricht sich nicht. Eucharistisch zu sein und ein Mensch des Singens, ein Mensch der Musik zu sein, geht ineinander – denn (wie schon gesagt): das Singen, die Musik für den Herrn, steht in der Mitte der Eucharistie. Ja, wir können einen Schritt weitergehen und sagen: Das Singen, die Musik überhaupt, ist aus der Begegnung der Menschen mit Gott entsprungen. Musik entspringt da, wo unsere Worte zu wenig können. Sie entspringt da, wo Liebe ist. Sie entspringt da, wo Dankbarkeit ist. Und darum gilt dann auch: Kirchenmusik steht nicht am Rand der großen Musik als etwas, das es auch noch gibt, sondern an ihrem Ursprung. Und sie muss ihre Mitte bleiben, sonst verfällt sie und verliert ihre wahre Größe und ihren Glanz, wie J. S. Bach einmal gesagt hat, dass Musik, die gar nichts mehr mit der Ehre Gottes zu tun hätte, nur noch äußerliches Geschepper und Geplärre sein würde. So sind bei Dir die beiden Berufungen ineinander gegangen: als Priester Eucharistie zur Lebensmitte zu haben und eben deshalb auch das Herz und den Mund, die Menschen und die Kirche zum Singen zu bringen als Antwort auf Gottes große Herrlichkeit, aber auch als Antwort auf die große Not des Gottesdunkels, das uns in dieser Zeit bedrängt.
Vieles wird Dir heute durch den Sinn gehen beim Zurückschauen auf die
Jahre Deines priesterlichen und Deines musikalischen Dienstes. 1934 hast Du in Aschau, wo wir damals waren, den Organistendienst für die Singmessen übernommen, so dass Du nun mit dem achtzigsten Geburtstag das 70jährige Jubiläum als Kirchenmusiker begehen darfst, Von da an sind immerfort das Dasein für den Herrn und die Hingabe an die Musik in Deinem Leben eine einzige große Leidenschaft geblieben. So konntest Du, um mit R. M. Rilke zu reden, Dein musikalisches Talent in wachsenden Ringen leben. Als Chef der Regensburger Domspatzen konntest Du über Schallplatten, CD und Konzertreisen das Singen dieses Chores auf alle Kontinente tragen und damit die Freude an Gott, die darin aufleuchtet, die Freude am Menschsein, das von Gottes Licht erhellt ist, die Freude an der Welt, die Er geschaffen hat.
Im Evangelium steht ein Wort, das ich an den Schluss dieser Besinnung stellen möchte. Da sagt uns der Herr: Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde (Joh 15, 15). Freunde Jesu dürfen wir werden: schon von der Taufe an, in der Firmung, durch die Eucharistie. Im Bußsakrament macht er uns immer wieder zu Freunden, und im Priestertum hat er uns ganz tief in diese Freundschaft hineingenommen – so sehr, dass wir in seinem Namen sprechen, das Wort der Vergebung und das der Verwandlung sagen dürfen.
Dann sagt der Herr: Ich habe euch berufen, dass ihr hingeht, dass ihr Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt (15, 16). Jeder Mensch strebt irgendwie danach, dass etwas von ihm bleibe. Deswegen wird gebaut, deswegen werden Bücher geschrieben, Monumente errichtet. Ein römischer Dichter hat einmal gesagt: Non omnis moriar – „Nicht alles an mir wird sterben.“
Aber was bleibt wirklich? Wirklich bleibend ist nur, was in eines Menschen Herz eingegangen ist und ihm leben geholfen hat, ihm geschenkt hat, Freude am Menschsein durch Freude an Gott zu finden. Denn nur der Mensch, seine Seele, sein Herz, ist unsterblich. Und deshalb ist auch nur das bleibend, was wir einem Menschen geben konnten: Das ist die wahre Frucht. Du bist als Priester immer auch Erzieher gewesen, der anderen nicht nur geholfen hat, singen zu lernen, sondern sie zum Lob Gottes, zum Danken, zur Eucharistie geführt hat. Ich stelle mir vor, dass das gar nicht einfach ist, 10-jährigen Buben dieses Singen zu lehren, mit denen zu unser aller Freude heute unter der Leitung Deines Nachfolgers Deine für das Heilige Jahr komponierte Messe ertönt. Aber gerade durch solches Mühen entsteht die Freude, die Lohn der Mühe ist.
So kommt in dieser Stunde Dank von vielen Seiten auf Dich zurück. Was du ausgestrahlt hast, kommt wieder: Frucht, die bleibt, Frucht, die Licht wird in Dein Leben hinein und Dich wissen lässt: Ja, der Herr war gut zu mir. Und ich durfte anderen helfen, seine Güte zu erfahren und sein Leuchten singend weiterzugeben.
Als Christen glauben wir nicht an Horoskope. Aber dass der Herr uns mit unserem Geburtsdatum irgendwie sozusagen eine Intonation, einen Schlüssel für den eigenen Lebensweg gegeben hat, das dürfen wir doch annehmen. Der 15. Januar ist kein Festtag der Kirche, aber er steht noch im Nachglanz von Weihnachten. In vielen Häusern wie auch auf dem Petersplatz zu Rom steht noch der Christbaum, grüßt uns seinem lieben Licht und lässt uns etwas von dem Licht von Bethlehem wahrnehmen. Und die Krippe steht noch vielerorts, und das Lächeln des Jesuskindes schaut uns an: der Gott, der ein Kind geworden ist, mit dem wir per Du sein dürfen. Der Gott, der als Kind uns entgegengeht, uns die Furcht nimmt und uns den Glauben, ja die Gewissheit gibt: Er liebt mich, und auch in finsteren Stunden steht das Leuchten seines Angesichtes über mir.
Dass dieses Lächeln Jesu, von dem die Weihnachtszeit spricht, in Deinen Tagen immer gegenwärtig bleibe, dass du immer wieder das Leuchten des Mensch gewordenen Gottes spüren darfst, das wünschen wir Dir in dieser Stunde. „O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit!“ Du hast diesem schönen Lied mit einem achtstimmigen Satz neuen Glanz gegeben. Möge der Herr Dir schenken, dass das Fröhliche, das Selige dieser Zeit Dich Tag um Tag begleite, bis Du einmal in die Freude, in die Seligkeit des ewigen Einsseins mit dem Schöpfer und Erlöser-Gott hineintreten darfst.
Amen.