Den Mut der Wahrheit lernen
In den Kar- und Ostertagen versuchen wir, dem Leser Predigten von Joseph Ratzinger als geistliche Begleiter durch eine schwierige Zeit zur Verfügung zu stellen. Wir wünschen Ihnen, dass Sie die Zuversicht des Osterfestes in ihre Herzen aufnehmen und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Im Namen aller Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Instituts wünsche ich Ihnen eine gnadenreiche Kar- und Osterzeit und Kraft, Geduld und vor allem Gesundheit! Ihr Dr. Christian Schaller
Wir beginnen mit der Predigt, die Joseph Kardinal Ratzinger auf Einladung des damaligen Erzbischofs von Paris, Jean-Marie Kardinal Lustiger (1926-2007) am 8. April 2001 in der Kathedrale Notre-Dame in der Liturgie des Palmsonntags gehalten hat. Die Texte stammen aus dem Lesejahr C.
1. Lesung: Jes 50, 4–7
2. Lesung: Phil 2, 6–11
Evangelium: Lk 22, 14–23, 56
(Quelle: JRGS 14, 374–377)
Liebe Brüder und Schwestern!
Der triumphale Einzug Jesu in Jerusalem ist der Einzug zur Passion. Das Kreuz ist sein Königsthron. Denn sein Königtum ist die „Liebe bis ans Ende“ (Joh 13, 1). Vom Kreuz aus erobert er die Welt, denn vom Kreuz kommen die reinigenden Wasser seiner Liebe, kommen die Sakramente, durch die er die Kirche baut und so die Menschen sammelt für Gottes kommendes Reich. Die ganze heilige Woche will uns in die Begegnung mit dem österlichen Geheimnis Christi, mit seinem Kreuz und seiner Auferstehung hineinführen und durch diese Begegnung uns von innen her heilen und aufrichten.
Wie immer legt uns die Kirche an diesem Sonntag drei Lesungen im Dreiklang von Prophet, Apostel und Evangelium vor, damit wir in diesem Dreiklang etwas von der Tiefe und Höhe des Gotteswortes, der Wirklichkeit des lebendigen Gottes innewerden. Wir hören heute die Passion des Herrn in der Darstellung des heiligen Lukas. Die beiden vorangehenden Lesungen sollen uns helfen, die Himmel und Erde, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannende Größe dieses Ereignisses zu erkennen und zugleich verstehen zu lernen, wie es uns angeht, uns gegenwärtig ist. In den Worten des Propheten Jesaja können wir sehen, wie Gott allmählich in der Geschichte Israels den Weg auf Christus hin öffnet, das Geheimnis des leidenden Herrn vorbereitet. Weil wir selbst immer wieder in vieler Hinsicht gleichsam vor Christus leben, noch gar nicht in seiner Stunde angekommen sind, deshalb brauchen wir das Prophetenwort, das uns auf Christus hinführt, uns ihm gleichzeitig macht, uns helfen will, ihm gleichförmig zu werden. Nur zwei Aspekte dieses reichen und tiefen Textes möchte ich herausstellen. Der Knecht Gottes bezeichnet sich hier als Schüler Gottes, dessen erste Aufgabe das wachsame Hören auf Gott ist, damit er sein Wort unverfälscht weitergeben kann. Zweimal spricht er vom Öffnen der Ohren: „Jeden Morgen weckt er mein Ohr. […] Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.“ Etwas vom Geheimnis Christi schimmert hier durch, der das ewige Wort des Vaters ist: reines Empfangen und zugleich reine Antwort und dadurch der Offenbarer, von dem das Johannesevangelium sagt: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1, 18). Der Prophet, der ganz Ohr geworden ist und darum recht reden kann, wendet sich uns zu: Zu den Riten der Taufvorbereitung gehörte in der alten Kirche auch der Ritus der Öffnung der Ohren: Effata – „öffne dich“, sagt die Kirche, und der Priester berührt dabei unsere Ohren, wie Jesus es bei der Heilung des Taubstummen getan hatte (vgl. Mk 7, 34). Sind wir nicht alle taubstumm oder wenigstens recht schwerhörig Gott gegenüber? Es ist so viel innerer und äußerer Lärm in uns und um uns, dass wir die leise Stimme Gottes nicht hören können. Unsere Sorgen, unsere Wünsche, unsere Geschäfte, der Lärm der öffentlichen Meinung – das alles blockiert unser Gehör Gott gegenüber. Schüler Gottes müssen wir werden, uns jeden Morgen neu das Ohr und das Herz von ihm öffnen lassen, die innere Wachheit für ihn erlernen, damit wir nicht das Wichtigste in unserem Leben überhören. Vom Herrn müssen wir uns, wie Jesus den Taubstummen, ab und zu „beiseitenehmen“ lassen, „von der Menge weg“, damit er uns die Ohren auftun kann, damit wir Schüler Gottes werden und damit er selbst, das lebendige Wort, unsere Türen nicht verschlossen findet.
So spüren wir schon, dass das Hörenlernen auf Gott und erst recht das Zeugnisgeben für ihn keine bloß intellektuelle Angelegenheit ist. Beim Propheten geht das Erzählen von der Öffnung der Ohren ganz unvermittelt in eine Leidensgeschichte über: „Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel“: Der Prophet stellt das Bild des leidenden Christus vor uns hin. In einer Welt, in der die Lüge Macht hat, in der Heuchelei und Mitläufertum wie normal erscheinen, wird die Wahrheit zur Passion. Die Wahrheit braucht das Leiden, einen anderen Weg hat sie in dieser Welt nicht. Schauen wir auf das vergangene Jahrhundert zurück, das ein Jahrhundert der Martyrer war wie keines zuvor: Die Zeugen der Wahrheit und der Liebe, die Zeugen Gottes, die den Tyrannen widerstanden, waren zugleich die großen Leidenden des Jahrhunderts. Die um der Wahrheit willen Leidenden sind die Lichter der Geschichte, die dem Sieg der Finsternis entgegenstehen; sie sind zugleich die Apologie Gottes und des Menschen. Ihretwegen brauchen wir nicht am Menschen zu verzweifeln, als ob er ein missglücktes Geschöpf wäre. Von ihnen her können wir an den Schöpfer glauben – an den Gott, der sich aus der Geschichte nicht zurückgezogen hat.
Mit diesen Gedanken kommen wir zum Kern des Prophetentextes, der in der Entwicklung des Alten Testaments eine neue Stufe bedeutet. Immer schon waren die Propheten um ihres Auftrags willen Leidende geworden; am dramatischsten ist es sichtbar bei Elija und bei Jeremia, dessen Passionsgeschichte in vielem die Passion Jesu vorausnimmt. Aber Jeremia lehnt sich noch auf gegen das Leiden, er wehrt sich gegen die Zerstörung, die ihm um Gottes willen widerfährt. Der Prophet, der hier spricht, gibt Neues zu erkennen: Er weiß, dass Gott von ihm das Ja zum Leiden erwartet und dass gerade sein Leiden ein Dienst ist, durch den er Gott näher wird, durch den Gott zu den Menschen spricht. So deutet sich nun das Geheimnis des Gottes an, der selbst ein Mit-Leidender geworden ist. In seinem Leiden führt Christus die Liebe bis zur Vollendung und öffnet uns so das Tor der Wahrheit. Wer vor dem Leiden nur flieht, es nur betäuben will, die Leidvermeidung um jeden Preis möchte, der flieht vor der Liebe, der flieht vor der Wahrheit, der flieht vor Gott. Eine Welt, die dem Leiden keinen Sinn mehr geben kann, wird grausam und macht sich unzugänglich für die Liebe, für die Wahrheit, für Gott. Im Leiden schenkt Gott uns die fruchtbaren Reinigungen, durch die wir erst wir selber werden – Bild Christi und Bild Gottes. Gott konnte die Welt nicht durch Macht erlösen, sondern allein durch Liebe und durch Wahrheit und darum durch Leiden. Das Leiden Christi gehört nicht einfach der Vergangenheit an, es muss durch die Leiden der Kirche, durch unsere Leiden „ergänzt“ werden (vgl. Kol 1, 24). Gerade so werden wir Christus nahe, gerade so werden wir wahr und werden fähig zur wirklichen Freude. Der Prophet lädt uns zum Mut der Wahrheit ein: „Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. […] Gott der Herr wird mir helfen. Darum werde ich nicht in Schande enden.“ Von Christus lernen wir den Mut der Wahrheit, der die Welt hell macht; die Demut der Liebe, die sie vor dem Erfrieren in der Kälte der Seelen rettet. Das Evangelium, wie es uns die heilige Woche vorlegt, ist keine bequeme Botschaft, aber gerade so ist es eine frohe Botschaft. Wir sind gewiss, dass in der Mühsal der Wahrheit und der durchgehaltenen Liebe Gott auf uns wartet und dass wir gerade darin der großen Freude entgegengehen.